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Soziale Medien im Griff des AKP/MHP-Regimes

Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Article 19 warnen, der türkische Staat könne seine Macht über die sozialen Medien zur Manipulation der Wahlen nutzen.

Die bevorstehenden Wahlen in der Türkei werden auf jeder Ebene vom AKP/MHP-Regime beeinflusst. Von auch nur annähernd gleichen Ausgangsbedingungen der Kandidat:innen und Parteien kann keine Rede sein. Insbesondere die demokratische Opposition, die sich im Bündnis für Arbeit und Freiheit zusammen geschlossen hat, steht unter massiver Repression. Massenfestnahmen, Einschränkungen von Medien und Einschüchterungsversuche sollen den Wahlkampf behindern. Aber auch auf der digitalen Ebene wird die Opposition systematisch ausgeschlossen und benachteiligt.

Die Menschenrechtsorganisationen Article 19 und Human Rights Watch bestätigen dies in einem Dossier. Die Organisationen legen dar, wie das das Regime abweichende Meinungen im Internet zum Schweigen bringt und ein großes Arsenal an digitalen Zensurinstrumenten aufgebaut hat. Gleichzeitig fordern die Organisationen die digitalen Medienplattformen auf, ihre Verantwortung im Kontext der bevorstehenden Wahlen wahrzunehmen.

Unabhängige Medien wurden ausgeschaltet

Das AKP/MHP-Regime hat während seiner zwanzigjährigen Herrschaft, insbesondere ab 2013, sämtliche unabhängigen Medien ausgeschaltet und, wie auch HRW und Article 19 feststellen, ein „autoritäres und stark zentralisiertes System unter einer exekutiven Präsidentschaft geschaffen, das die Kontrolle über die Gerichte ausübt, die öffentlichen Institutionen ausgehöhlt und die Rolle des Parlaments stark eingeschränkt hat“. Die Türkei habe ihre Bereitschaft gezeigt, internationales Recht zu missachten, indem sie verbindliche Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ablehnte. Sie habe sich auch aus der Istanbul-Konvention zurückgezogen, einem wichtigen Mechanismus zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt.

Menschenrechtsorganisationen: Recht auf freie und faire Wahlen bedroht

Die Menschenrechtsorganisationen stellen fest: „Der Rückschritt der Türkei bei den Menschenrechten und der Rechtsstaatlichkeit im Allgemeinen hat sich auf die Ausübung des Rechts auf freie und faire Wahlen im Land ausgewirkt. Internationale Wahlbeobachter:innen sind zu dem Schluss gekommen, dass Präsident Erdoğan und die regierende AKP bei zahlreichen Wahlen in der Vergangenheit einen ungebührlichen Vorteil genossen haben, während sich bei den jüngsten Kommunalwahlen 2019 in der Türkei eine eklatante Missachtung grundlegender demokratischer Prinzipien zeigte.“

Die Menschenrechtsorganisationen kritisieren in diesem Zusammenhang die Ernennung von Zwangsverwaltern an Stelle gewählter Kommunalpolitiker:innen und die Versuche des Regimes, die Wahlen 2019 zu manipulieren.

Soziale Medien als letzter Ort unabhängiger Information

Die Lage der Meinungsfreiheit in der Türkei sei derartig schlecht, dass die sozialen Medien den einzigen Ort darstellten, an dem die Menschen in der Türkei noch unabhängige Informationen erhalten könnten. Dies gelte trotz des zunehmend restriktiven Rechtsrahmens der Türkei, der die willkürliche Sperrung und Entfernung von Websites und anderen Online-Inhalten erlaubt.

Die Menschenrechtsorganisationen stellen fest: „Online-Plattformen spielen bei dieser Wahl eine besonders wichtige Rolle, da 90 Prozent der landesweiten traditionellen Medien in der Türkei eng mit der Regierung verbunden sind und unverhältnismäßig stark über Präsident Erdoğan und die Kampagne der Regierungspartei berichten. Infolgedessen sind die Oppositionsparteien stark auf das Internet angewiesen, um ihre Wähler:innen zu erreichen.“

37.000.000 Hetztweets der Trollarmee der AKP

Die AKP sehe die sozialen Medien als politisches Schlachtfeld an und versuche auch hier, den Diskurs massiv zu manipulieren. Nach dem Gezi-Park-Widerstand im Jahr 2013 wurde eine 6.000-köpfige Trollarmee eingerichtet, die Kritik online mundtot machen sollte. 2020 wurde ein Netzwerk von Pro-AKP-Trollen auf Twitter aufgedeckt und gelöscht, da es massiv gegen die Manipulationsrichtlinien verstoßen hatte. Das Netzwerk wurde der Jugendorganisation der AKP zugerechnet. Dabei wurden 7.000 Accounts gesperrt, die für 37.000.000 Hetztweets gegen jegliche Regimekritik verantwortlich waren. Viele dieser Konten waren gefälscht, während andere realen Personen gehörten und von AKP-Anhängern gekapert worden waren. Die türkische Regierung hat den Output solcher Konten oft als Beweis für die Unterstützung ihrer Politik und ihrer Ansichten durch die Bevölkerung aufgeführt und die Entfernung des Netzwerks von AKP-freundlichen Bot- und Troll-Konten durch Twitter als Angriff auf eine „populäre politische Bewegung“ bezeichnet.

Hasskampagnen des Regimes

HRW und Article 10 stellen fest, dass Nutzer:innen sozialer Medien in der Türkei weiteren Bedrohungen ausgesetzt sind, wenn sie sich am politischen Online-Diskurs beteiligen. Aufstachlung zur Gewalt und Online-Belästigung gegen Regierungskritiker:innen seien weit verbreitet, insbesondere geschlechtsspezifische Angriffe gegen Journalistinnen und Politikerinnen. Diese Angriffe würden von regierungsnahen Influencern koordiniert. Gleichzeitig würden dazu Botnetzwerke und gefälschte Konten eingesetzt, um den Druck zu erhöhen. Dies stelle insbesondere bei den Wahlen eine große Gefahr dar.

Gefahr der Manipulation vor den Wahlen

Deborah Brown, Senior Technology Researcher bei Human Rights Watch, warnt in Bezug auf die am Sonntag bevorstehenden Wahlen: „Die türkische Regierung hat ihre Bemühungen zur Durchsetzung der Zensur und zur Verschärfung der Kontrolle über soziale Medien und unabhängige Online-Nachrichtenseiten im Vorfeld dieser Wahl verstärkt. Die Wahl wird zeigen, ob sich die Wähler:innen in der Türkei trotz der Bemühungen der Regierung, die Unternehmen unter ihre Kontrolle zu bringen, auf die sozialen Medien verlassen können und ob sie unabhängige Nachrichten erhalten und ihre Meinung über die Wahl und ihren Ausgang äußern können.“

Die Menschenrechtsorganisationen fordern, die Medienplattformen sollten sich darauf vorbereiten, dass die Regierung die Bandbreite drosseln wird, und dementsprechende Ressourcen bereitstellen, um das Recht auf Informationsfreiheit zu gewährleisten.

Das Regime will den Diskurs auf allen Ebenen kontrollieren

Insbesondere die Diskussionen in den sozialen Medien befinden sich im Fokus des Regimes. Die Angriffe auf die sozialen Medien sind Teil einer breiteren Repressionskampagne gegen die gesamte Zivilgesellschaft, die Menschenrechtsorganisationen und Personen, die allgemein kritische Äußerungen im Internet machen. HRW und Article 19 berichten, dass die Regierung die Zensur des Internets mit einer Reihe von Gesetzen im Oktober 2022 verschärft habe. Dabei handelt es sich um ein Gesetz gegen „Desinformation“, das die Opposition treffend als „Zensurgesetz“ bezeichnet. Ein bis drei Jahren Haft stehen nun auf die Verbreitung „falscher oder irreführender Informationen“. Die Menschenrechtsorganisationen kommentieren das eigens vor den Wahlen erlassene Gesetz:

„Menschenrechtsexpert:innen haben darauf hingewiesen, dass diese Begriffe vage und weit gefasst sind, während es den Gerichten und Aufsichtsbehörden in der Türkei an der nötigen Unabhängigkeit fehlt, um die Regierung daran zu hindern, diese vagen Bestimmungen zu nutzen, um oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen. Die Verhinderung einer ‚Schädigung‘ oder ‚Störung‘ des ‚öffentlichen Friedens‘, ohne Bezug auf eine unmittelbare Bedrohung, ist problematisch. Vor allem angesichts der Tatsache, dass die türkische Regierung diese Art von Gesetzen seit langem zur Bekämpfung von Kritikern einsetzt, ist dies keine legitime Grundlage für die Einschränkung der Meinungsfreiheit.“

Die Zensur geht über Leichen

Tausende von Menschen in der Türkei und Nordkurdistan werden wegen ihrer Beiträge in den sozialen Medien strafrechtlich verfolgt, selbst wenn sie Inhalte nur liken oder teilen. Dazu wird nicht nur das Zensurgesetz, sondern auch die extrem weit ausgelegte Terrorgesetzgebung genutzt. So soll jeglicher politischer Dissens zum Schweigen gebracht werden. Die Menschenrechtsorganisationen berichten:

„In den letzten Jahren hat die Regierung die Verfolgung von Journalist:innen, politischen Gegnern und anderen Personen verschärft, die den Präsidenten und die Regierung online kritisieren oder auch nur kritische Artikel in sozialen Medien teilen oder liken. Sie sperrt häufig Websites und ordnet die Entfernung von Inhalten an, die gegenteilige Ansichten zum Ausdruck bringen, und blockiert den Zugang zu beliebten sozialen Netzwerken in Zeiten politischer Unruhen oder wenn sie Kritik erwartet, wie nach den verheerenden Erdbeben im Februar 2023.“ Insbesondere an den Drosselungen der sozialen Netzwerke direkt in Folge auf die verheerenden Erdbeben im Februar gibt es scharfe Kritik, da so Standortmitteilungen einer unbekannten Zahl von Verschütteten verhindert wurden und der Anspruch des Regimes auf Zensur über das Leben der Erdbebenopfer gestellt wurde.

Weltweit Zensurversuche durch Türkei

Auch auf internationaler Ebene versucht die Türkei, zu zensieren. So gehört die Türkei zu den Ländern, die weltweit die meisten Anfragen zur Entfernung von Inhalten von Twitter senden. Im Jahr 2021 verurteilte die Regierung den oppositionellen Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu und schloss ihn anschließend aus dem Parlament aus, nur weil er eine Nachricht auf Twitter geteilt hatte.

Im Jahr 2014 drohte Präsident Erdoğan im Vorfeld der Kommunalwahlen damit, Twitter „auszulöschen“ und ordnete an, die Plattform innerhalb der Türkei zu sperren, weil sie gerichtlichen Anordnungen zur Entfernung von Inhalten auf ihrer Plattform nicht nachgekommen war.

Kontrolle der sozialen Netzwerke

Die türkische Regierung versucht systematisch, die sozialen Medien unter ihre Kontrolle zu bekommen. Ab 2018 stieg laut dem Dossier die Zahl der Anfragen nach Userdaten beim Meta-Konzern (Facebook) durch die türkische Regierung massiv an, und die Türkei befindet sich seitdem dauerhaft unter den Top-Ten der Länder, die Daten bei Meta abfragen. 2019 ging die türkische Internet-Regulierungsbehörde BTK (Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien) noch weiter und begann, wahllos private Daten aller Internet- und Mobilfunkteilnehmer:innen in der Türkei zu sammeln.

Mit dem Zensurgesetz von Oktober 2022 sind soziale Medienplattformen verpflichtet, Nutzer:innen zu identifizieren, die bestimmter Straftaten beschuldigt werden (einschließlich des neuen Straftatbestands der „Falschinformation“), und Nutzerdaten auf Anfrage an Gerichte und Staatsanwälte weiterzugeben. Das Gesetz verpflichtet Social-Media-Unternehmen außerdem, proaktiv alle Inhalte zu melden, die „die Sicherheit von Leben oder Eigentum gefährden“, und Informationen über die Nutzer bereitzustellen, die diese Inhalte veröffentlicht haben. Da auch dieser Begriff vage und undefiniert bleibt, ist nicht klar, welche Kategorien von Inhalten die Plattformen proaktiv überwachen und an die türkischen Behörden weitergeben müssen. Die Menschenrechtsorganisationen kritisieren: „Unternehmen zu zwingen, proaktiv zu überwachen, was Nutzer auf ihren Plattformen posten, und vermeintlich problematische Inhalte zu melden, wirft ernste Menschenrechtsbedenken auf, sowohl im Hinblick auf die Meinungsfreiheit als auch auf die Privatsphäre.“

Messengerdienste im Visier

Das Änderungspaket vom Oktober 2022 gibt auch Anlass zur Sorge über die künftige Sicherheit einiger privater Nachrichtendienste. Nach diesen Änderungen müssen Messaging-Dienste nun Unternehmen in der Türkei gründen und mit einer Lizenz arbeiten, die von der BTK eingeholt werden muss. Die BTK wird weitere Vorschriften einführen, nach denen verschiedene Kommunikationsunternehmen verpflichtet sein könnten, private Kommunikation abzuhören, darauf zuzugreifen oder sie offenzulegen.

Internetsperren durch das Regime – mehr als 570.000 Domains gesperrt

Die türkische Regierung verfügt auch über eine Reihe von Befugnissen, mit denen sie die Entfernung von Beiträgen und die Sperrung von Websites und sogar ganzen Plattformen anordnen kann. Das AKP/MHP-Regime macht von diesen Befugnissen immer wieder Gebrauch, insbesondere auch im Vorfeld der Wahlen. Die Türkei kann Internetdienstleister anweisen, den Zugang zu sozialen Medien und anderen Websites zu sperren oder stark zu verlangsamen. Bei einer Reihe von Gelegenheiten wurden ganze Plattformen auf der Grundlage einer geringen Anzahl von Artikeln gesperrt, die angeblich gegen türkisches Recht verstießen. So sperrte sie beispielsweise den Zugang zu Wikipedia für einen Zeitraum von drei Jahren mit der Begründung, die nationale Sicherheit sei gefährdet. Im Dezember 2021 hatte die Türkei mehr als 570.000 Domains gesperrt. Nach türkischem Recht können Plattformen, die Nutzerinhalte nicht auf gerichtliche Anordnungen oder Aufforderungen der BTK hin entfernen, für alle durch diese Inhalte verursachten Schäden haftbar gemacht werden. Die Änderungen vom Oktober 2022 rüsten die BTK mit neuen Befugnissen aus, um die Zensur auf den Plattformen durch eine Reihe schwerwiegender Compliance-Maßnahmen durchzusetzen.

Auch Online-Nachrichtenseiten sind im Rahmen der türkischen Regulierungsvorschriften willkürlichen Vorschriften unterworfen und können angewiesen werden, Nachrichten zu entfernen und Korrekturen auf ihren Homepages zu veröffentlichen. Online-Nachrichtensender und digitale Streaming-Plattformen müssen Lizenzen bei der regierungsnahen türkischen Rundfunkaufsicht, dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK), beantragen. RTÜK ist dafür berüchtigt, willkürliche Geldstrafen zu verhängen und sogar die vorübergehende Einstellung der Ausstrahlung der wenigen regierungskritischen Fernsehsender anzuordnen. Sowohl die Deutsche Welle als auch Voice of America mussten ihre Online-Nachrichtenseiten in der Türkei per Gerichtsbeschluss sperren lassen, weil sie sich nicht um Lizenzen bei der Rundfunkaufsichtsbehörde bewerben wollten, da sie sich deren Zensurregime nicht unterwerfen wollten.

Warnung für den Wahltag

Die Organisationen geben insbesondere in Bezug auf den Wahltag eine ernste Warnung ab: „Angesichts der Kontrolle der türkischen Regierung über die traditionellen Medien und über den Hohen Wahlausschuss arbeiten zivilgesellschaftliche Gruppen wie Oy ve Ötesi (Vote and Beyond) mit politischen Parteien und Zehntausenden von Freiwilligen zusammen, um wichtige Aufgaben der Wahlbeobachtung zu übernehmen. Dazu gehören die Dokumentation von Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe sowie die Bestätigung der Wahlergebnisse durch eine unabhängige Auszählung der Stimmzettel. Der Zugang zu zeitnahen und genauen Ergebnissen aus unabhängigen Quellen wie Oy ve Ötesi kann entscheidend sein. In der Vergangenheit wurden offizielle Quellen wie die staatliche türkische Anadolu-Agentur der Manipulation beschuldigt, indem sie zum Beispiel regierungsnahe Ergebnisse veröffentlichten und einen vorzeitigen Sieg verkündeten, bevor die Auszählung abgeschlossen war.“ Für den fairen Ablauf der Wahlen sei die Beobachtung entscheidend, dafür seien digitale Hilfsmittel, insbesondere soziale Medien, essentiell.

Die Menschenrechtsorganisationen erklären: „Die türkische Regierung hat sich mit zahlreichen Befugnissen ausgestattet, die sie als Vorwand nutzen kann, um jede beliebige Social-Media-Plattform zu drosseln und unbrauchbar zu machen. Solche Schritte könnten während der Wahlen mit dem Hintergedanken unternommen werden, das Recht auf Informationen und unabhängige Nachrichten im Internet einzuschränken. Werden die Wahlergebnisse am Wahltag oder in der Zeit danach angefochten, kann die Regierung ihr gesamtes Spektrum an Zensurbefugnissen – insbesondere die ‚Verbreitung von Falschinformationen‘ – einsetzen, um unabhängige Gruppen daran zu hindern, Ergebnisse anzufechten, die die Regierungspartei begünstigen. Unternehmen der sozialen Medien können starkem Druck ausgesetzt sein, Inhalte zu entfernen, die die Regierung für ungünstig hält, einschließlich der Bewertungen von unabhängigen Beobachtern.“

ANF

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