Reporter ohne Grenzen ist schockiert über den Angriff auf den regierungskritischen türkischen Journalisten Erk Acarer in Berlin. Am Mittwochabend wurde Acarer offenbar auf dem Hof des Mehrfamilienhauses, in dem er wohnt, von drei Männern angegriffen und verletzt und musste im Krankenhaus behandelt werden. Der Journalist berichtete auf Twitter, dass er die Täter kenne und diese ihm gesagt haben, er solle nicht wieder schreiben. Gegenüber der Polizei gab Acarer an, er vermute hinter dem Angriff seine Arbeit als Journalist. Acarer ist 2017 mit einem RSF-Nothilfe-Stipendium nach Deutschland gekommen und lebt seitdem im Exil in Berlin.
„Wir kennen die Hintergründe der Tat noch nicht, aber dass ein regierungskritischer Journalist aus der Türkei in Berlin angegriffen wird, ist besorgniserregend und könnte andere Exiljournalistinnen und -journalisten im Land einschüchtern. Die Behörden müssen dem Verdacht nachgehen, dass der Angriff mit seiner journalistischen Arbeit zusammenhängt“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Medienschaffende im Exil sind vor Repressionen in ihren Heimatländern geflohen. Sie müssen sich hier sicher fühlen können.“
Laut Polizei Berlin dauern die Ermittlungen an und wurden vom polizeilichen Staatsschutz übernommen. Acarer hatte in der Türkei für verschiedene türkische Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet, darunter Cumhuriyet, Sabah, Habertürk und Milliyet. Zuletzt war er Journalist bei der linksoppositionellen Tageszeitung Birgün und schrieb schwerpunktmäßig über Themen wie islamistischer Terror, islamischer Fundamentalismus und den Krieg in Syrien. Aufgrund seiner kritischen Berichterstattung war er in der Türkei immer wieder bedroht worden. In Berlin arbeitete er für den Online-Nachrichtendienst taz.gazete.
Reporter ohne Grenzen beobachtet seit einigen Jahren, dass sich Drohungen und Einschüchterungsversuche auch immer wieder gegen Exiljournalistinnen und -journalisten richten, die aus Angst vor Repression und staatlicher Verfolgung aus ihren Heimatländern nach Deutschland geflohen sind. Betroffen sind unter anderem Medienschaffende aus der Türkei und Vietnam. Im Juli 2020 wurde bekannt, dass ein ägyptischer Spion für Präsident Al-Sisi im Bundespresseamt arbeitete und dort Zugang zu Informationen über ägyptische Exiljournalistinnen und -journalisten hatte. Im März 2021 verurteilte ihn ein Berliner Gericht zu einer Bewährungsstrafe.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 153 von 180 Staaten.
Aus Türkei exilierter Journalist in Berlin angegriffen
In Berlin wurde der aus der Türkei geflohene Journalist Erk Acarer in seiner Wohnung überfallen und verletzt. Auf Twitter berichtete er: „Ich wurde in meinem Haus in Berlin mit Messern und Fäusten angegriffen. Ich bin nicht in Lebensgefahr. Wir gehen jetzt ins Krankenhaus. Ich weiß, wer die Täter sind. Ich werde mich dem Faschismus nie ergeben. Niemand soll daran zweifeln, diese Tage werden vergehen.“ Gegenüber Tele1 berichtete Acarer, wie die Täter ihn überfallen und geschrien haben: „Du wirst nicht mehr schreiben“. Aufgrund des Lärms seien die Nachbarn gekommen, daraufhin seien die Täter geflohen. Acarer erklärte, er stehe mittlerweile unter Polizeischutz.
„Hör auf über die Werte von Familie und Nation zu schreiben“
Gegenüber BirGün beschreibt Acarer kurz nach dem Angriff den Überfall: „Vor einer Stunde kamen drei Männer mit Pistolen und Messern zu mir nach Hause, traten und schlugen mich mit Fäusten. Sie fingen an, mich zu schlagen, bevor ich überhaupt wusste, was los war. Sie drohten, schlimmeres zu tun, wenn ich weiter über die Familie und die Werte der Nation schreiben würde. Im Moment bin ich im Krankenhaus. Die Polizei ist hier und nimmt meine Aussage auf. Ich habe ihnen das ebenfalls erzählt. Ich habe eine große Beule auf der rechten Seite meines Kopfes. Die Angreifer sind klar. Es sind diejenigen, die von dem, was ich schreibe, beunruhigt sind. Ich schwebe nicht in Lebensgefahr und kenne die Täter. Keine Sorge, diese Tage werden vergehen.“
Bereits am Telefon bedroht
Acarer berichtet, er sei zuvor schon seit Wochen am Telefon bedroht worden. Anrufer mit Nummern britischer und französischer Vorwahl sprachen Drohungen wie „Wir sind dir näher als du denkst“ aus. Acarer hatte bereits die Polizei über die Drohungen informiert und Anzeige erstattet.
„Von Innenminister Soylu als Clown und Trottel beschimpft“
Zu den Angreifern verwies Acarer auf die Türkei und sagte: „Um zu verstehen, wer hinter den Angriffen steckt, muss man sich nur anschauen, was ich in den letzten 15 Tagen geschrieben habe.“ Acarer war bereits im April vom tief in einen Mafiaskandal verwickelten, türkischen Innenminister Süleyman Soylu in einem Tweet direkt als Clown und Trottel beschimpft worden. Acarer berichtet kritisch über die Verbindungen der türkischen Regierung zur organisierten Kriminalität.
„Sie werden mich nicht zum Schweigen bringen“
Acarer will sich nicht einschüchtern lassen: „Wenn sie glauben, dass sie mich so zum Schweigen bringen, dann irren sie sich gewaltig. Ich werde genau an dem Punkt, an dem ich stehen geblieben bin, weiter die Wahrheit schreiben und die Dunkelheit ausleuchten.“
2017 aus der Türkei exiliert
Erk Acarer war im April 2017 mit seiner Frau und seiner Tochter nach Berlin geflohen. Er hatte in verschiedenen türkischen Zeitungen, zuletzt in der regimekritischen Zeitung Birgün, über die Verbindungen zwischen der Türkei und dem IS berichtet und war dadurch ins Visier des AKP/MHP-Regimes geraten. 2016 hatte er den Göktepe-Preis für einen kritischen Artikel über die Legitimierung sexuellen Missbrauchs durch die Religionsbehörde Diyanet erhalten. Darin hatte die Religionsbehörde auf Anfrage eines Gläubigen erklärt, dass es keinen Einfluss auf die Ehe habe, „wenn der Vater seine Tochter mit Wollust küsst“. Es sei ebenfalls keine Sünde, wenn ein Vater seine Tochter „ansieht und dabei Lust empfindet“. Das Mädchen müsse aber „älter als neun Jahre“ sein.
RSF / ANF / 08.07.2021