Millionen Menschen sind am 1. Mai in der Türkei auf die Straße gegangen, um eine entschiedene Sozialpolitik und ein Ende von Ausbeutung und Unterdrückung entlang von Klasse, Ethnizität und Geschlecht zu fordern. Zugleich wiesen Organisierende und Teilnehmende der traditionellen Demonstrationen zum Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse auf die Bedeutung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai hin.
Eine der größten Zusammenkünfte fand in Istanbul statt. Mehrere hunderttausend Menschen strömten in mehreren Demonstrationszügen zum Hafenplatz im Bezirk Maltepe auf der anatolischen Seite der Großstadt, um an einer Bündniskundgebung der Gewerkschaftsverbände DISK (Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften) und KESK (Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter), der Kammer der Architekten und Ingenieure (TMMOB), der Zahnärztekammer (TDB) und der Ärztevereinigung (TTB) teilzunehmen. Das Motto lautete: „Die Arbeit gehört uns, die Zukunft gehört uns“.
Die DISK-Präsidentin Arzu Çerkezoğlu leitete ihre Rede mit den Worten ein: „Seit Jahren leben wir unter einem Regime, das sich von Ungerechtigkeit, Gesetzlosigkeit, Verbotspolitik, Ausbeutung und Lügen nährt. Mit dieser Ordnung haben uns die Herrschenden verarmen lassen. Sie haben unsere Freiheiten, unser Volk und unsere Rechte an sich gerissen, sie haben die Gerechtigkeit zerstört. Sie haben die Ressourcen dieses Landes geplündert, um sich zu bereichern. Sie haben das Erdbeben, eine Naturkatastrophe, in eine Apokalypse verwandelt – und uns alle einen schmerzhaften Preis bezahlen lassen.“ Um diesen völlig unannehmbaren Status quo zu ändern, der Frauen, Angehörige von Minderheiten und die Jugend besonders ausbeute, und um einen demokratischen Aufbruch und soziale Verbesserung in der Türkei einzuleiten, müssten alle Stimmberechtigten am 14. Mai „auf jeden Fall“ den Urnengang machen. Der Ausgang der Abstimmung könnte ein Wendepunkt sein und neben einem Regierungswechsel auch einen Systemwechsel einläuten, betonte Çerkezoğlu.
In Amed (tr. Diyarbakır) fand eine von der Plattform für Arbeit und Demokratie organisierte Demonstration mit anschließender Kundgebung statt. Die Polizei ließ die zahlreichen Teilnehmenden nur gruppenweise auf den mit Gittern abgesperrten Şêx-Seîd-Platz. In einer auf verschiedenen Sprachen verlesenen Erklärung des Organisationskomitees wurde betont, dass die Türkei unter Mega-Inflation und einer kapitalistischen Wirtschaft leide, die den Profit über das Wohlergehen stelle und Menschen ausbeute. Ausdrücklich begrüßt wurde der Plan des Bündnisses für Arbeit und Freiheit für eine Umgestaltung der Ökonomie. Die Allianz, der unter anderem die HDP, YSP und EMEP angehören, fordert in ihrem Wahlprogramm ein Wirtschaftssystem, in dem human gearbeitet und gelebt wird und eine Demokratie, die sich auf die Herrschaft des Volkes stützt.
Hohe Lebenshaltungskosten, niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit und Armut werden von dem Bündnis als aktuell drängendste Probleme benannt. Die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen und der unterdrückten Masse des Volkes seien das wichtigste Anliegen der Parteien. Die Rechnung für die wirtschaftliche Krise und den vielseitigen gesellschaftlichen Zerfall müsse das aus- und inländische Kapital zahlen, fordern sie. Preissteigerungen sollen gestoppt, Entlassungen verboten und ein Wirtschaftsprogramm verfolgt werden, dass die Armut beseitigt. Im Rahmen eines „Programms für soziale Rechte“ sollen Strom, Gas, Wasser und Internet für Menschen mit einem Monatseinkommen unter der Armutsgrenze kostenfrei sein. Dringend sollen Schritte für die Verstaatlichung des Energie- und Verkehrsnetzes sowie im Gesundheits- und Bildungsbereich unternommen werden, unter Einbeziehung der Angestellten.
Dem Aufruf zu einer Demonstration in Êlih (Batman) unter dem Titel „Kämpfend werden wir gewinnen – Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive“ sind tausende Menschen gefolgt. Unter den Teilnehmenden waren besonders viele Öl-Arbeiter – Êlih gilt als Zentrum der Erdölindustrie im Land. Veysel Kartal, Vorsitzender des Ortsverbands der Gewerkschaft Petrol-İş, thematisierte in seiner Rede die Folgen der Erdbeben-Serie vom 6. Februar.
Es sei ein Paradebeispiel dafür, wie kapitalistische Profitgier und mangelnde Kontrolle das menschliche Leben missachteten und wie ein ganzes System, an dessen Spitze sich ein Mann befinde – gemeint war Staatschef Erdogan – dies zulasse. „Diejenigen, die die Schäden des Erdbebens – die weit über den Verlust an Menschenleben und materiellen Schäden hinaus gehen – verursacht haben, sollten wissen, dass sie sich vor diesem Volk verantworten werden. Der Kapitalismus hat das Erdbeben nicht verursacht, aber seine Zerstörungskraft um ein Vielfaches potenziert. Alle, die an dieser Zerstörung beteiligt waren und sind, werden sich früher oder später vor dem Gewissen dieses Volkes und vor dem Gesetz verantworten müssen.“ Mit einem Gruß an alle Menschen, die sich derzeit in der Türkei gegen Unterdrückung und Verfolgung wehren, beendete Kartal seine Ansprache.