Die Grüne Linkspartei (Yeşil Sol Parti, YSP) hat am Montag den Startschuss für ihren Wahlkampf eingeleitet. Bis zum Vorabend der Parlaments- und Präsidentenwahl am 14. Mai werde es Veranstaltungen in 65 Provinzen des Landes geben, teilte die Partei mit. Die Wahlkampfdelegationen bestehen aus den Ko-Vorsitzenden, Sprachrohren und anderen Vertretenden der YSP, ihrer Schwesterpartei HDP, der Graswurzelbewegung KCD und des HDK – das Organisierungsgremium hunderter Gruppen und politisch Handelnden, aus dem die HDP 2012 hervorgegangen ist.
In den Auftakt des Wahlkampfmarathons startete die YSP zeitgleich in Colemêrg (tr. Hakkari) und Şirnex (Şırnak). Besonders die rein weibliche Zusammenkunft in Silopiya hatte es in sich: Tausende Frauen in bunten Kleidern strömten auf den Newroz-Platz, um zu tanzen, zu singen und gebannt den Wahlkampfreden zu lauschen. Die Stimmung war kämpferisch und entschlossen.
Uçar: Der Souverän in einer Demokratie ist das Volk
Zu Wort meldete sich unter anderem die YSP-Sprecherin Çiğdem Kılıçgün Uçar, die direkt zu Beginn verkündete: „Wir Frauen werden das Ein-Mann-Regime zerschlagen.“ Die Politikerin bezeichnete den amtierenden Staatschef Erdoğan als Souverän, der sich selbst und seine AKP als einzigen Vertreter des Landes sehe, der Opposition ihre Legitimität abspreche und die Gewaltenteilung ausgehebelt habe. „Der Souverän in einer Demokratie ist das Volk. Doch in der heutigen Türkei ist es die willkürliche Ein-Mann-Herrschaft“, betonte Uçar. Die Türkei sei zwar schon immer ein gespaltenes Land gewesen, doch unter Erdoğan sei die politische und soziale Polarisierung massiv vertieft worden. Uçar sprach in dem Zusammenhang von einer politischen Strategie und Polarisierung als „Prinzip“.
Die Macht Erdoğans erreichte 2018 ihren Höhepunkt, als der AKP-Chef die Umwandlung des parlamentarischen Systems der Türkei in ein hyperpräsidiales System ohne Kontrollmechanismen durchsetzen konnte. „Am 15. Mai wird dieses System auf den Müllhaufen der Geschichte katapultiert werden“, zeigte sich Uçar sicher. Der Systemwechsel sei unausweichlich und die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie als Staatssystem faktisch besiegelt. Denn nur so könne sich der Weg zur Demokratisierung der Türkei öffnen.
„Wir holen uns die Istanbul-Konvention zurück“
Uçar ging im weiteren Verlauf auf das Thema Frauenrechte ein, die in der Türkei immer weiter beschnitten werden. „Zuerst ist das Land auf Betreiben dieses Präsidenten aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor patriarchaler Gewalt ausgestiegen. Jetzt soll auch noch das Gesetz 6284 gestrichen werden – als Wahlversprechen an neotraditionalistische Maskulinisten in den Reihen rechter und islamistischer Parteien, die Erdoğan bei den Wahlen unterstützen. Das lassen wir uns nicht gefallen“, so Uçar. Die Frauenbewegungen in der Türkei und Kurdistans seien die dynamischsten und organisiertesten Kräfte im Land. Ihnen werde es gelingen, erkämpfte Rechte zu verteidigen. Dazu zähle, zur Istanbul-Konvention zurückzukehren und Frauenschutzgesetze zu bewahren.
Das Gesetz Nummer 6284 gilt als das wichtigste verbliebene zum Schutz von Frauen vor patriarchaler Gewalt. Das größtenteils von Frauenrechtsorganisationen verfasste undvon der AKP im Jahr 2012 als „Schutzmantel für Frauen” erlassene Gesetz gießt die Bestimmungen der Istanbul-Konvention in nationales Recht. Von dem Vertrag hat sich die Türkei zwar zurückgezogen, doch die Regelungen der Konvention gelten durch das Gesetz 6284 auch weiterhin und gewähren Frauen Schutz vor Männergewalt. Parteien wie die Neue Wohlfahrtspartei (YRP) und die Hüda-Par, die aus der Tradition des islamistisch-kurdischen Mördernetzwerks Hizbullah stammt, sehen im Gesetz Nr. 6284 einen Rahmen für die „Zerstörung” klassischer Familienstrukturen und Förderung von Homosexualität. Sie haben sich dem Wahlblock der AKP und der rechtsextremen MHP angeschlossen und sollen bei Erdoğan bereits durchgesetzt haben, dass das Frauenschutzgesetz bei einer Wiederwahl des Langzeitherrschers abgeschafft wird.
Stimmabgabe im Ausland beginnt am 27. April
Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai sind in der Türkei rund 60,7 Millionen Menschen zur Abstimmung aufgerufen. Zusätzlich dürfen rund 3,4 Millionen Menschen im Ausland ihre Stimme abgeben. Viele Menschen im Land bezeichnen die bevorstehende Abstimmung als eine Schicksalswahl zwischen Autokratie und Demokratie, deren Ausgang die politische Lage in der gesamten Region und darüber hinaus über Jahre hinweg maßgeblich beeinflussen wird. Das AKP/MHP-Regime steckt in einer Krise und es besteht die realistische Chance, der 21-jährigen Erdoğan-Herrschaft an den Wahlurnen ein Ende zu bereiten. Dafür ist eine hohe Wahlbeteiligung die Voraussetzung. Bei vorhergehenden Wahlen konnte die AKP vor allem im Ausland Stimmen mobilisieren. Die Stimmabgabe im Ausland beginnt schon am kommenden Donnerstag, den 27. April.