In Chile steht am 11. März ein Regierungswechsel an, der zugleich ein Generationenwechsel ist: „Der 35-jährige Gabriel Boric ist nicht nur der jüngste Präsident Chiles: Anders als seine Vorgänger kommt er nicht aus dem Parteien-Establishment, sondern aus der Studentenbewegung“, erklärt Yvonne Bangert, Referentin für indigene Völker bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). „Die Erwartungen der Indigenen an die Regierung Boric sind daher hoch. Da klingt es vielversprechend, dass er einen fairen Dialog mit den Mapuche in der Araucania zugesichert hat.“ Der indigene Süden Chiles ist aber noch immer Notstandsgebiet. Borics Vorgänger, Sebastián Piñera, hat den Ausnahmezustand in vier südchilenische Provinzen erst vor kurzem noch einmal verlängert. Er ist seit Oktober 2021 in Kraft. „Boric startet also mit einer Hypothek ins Amt, die ihm bei den Mapuche sicher keinen Vertrauensvorschuss einbringt. In den Notstandsgebieten kommen immer wieder Mapuche unter ungeklärten Umständen zu Tode“, erinnert Bangert.
Giorgio Jackson, Generalsekretär der künftigen Regierung Boric, betonte in den Medien, dass der Konflikt zwischen Mapuche und Staat nicht mit polizeilichen Mitteln zu lösen sei. Ein politischer Konflikt sei nur durch Dialog beizulegen. Die beiden bisherigen Friedensabkommen von 1825 und 1826 seien am chilenischen Staat gescheitert. „Wir glauben, dass wir 200 Jahre danach zu einer Vereinbarung und einer politischen Verständigung hinsichtlich der Autonomie, des Territoriums und der Kultur der ursprünglichen Völker kommen können“, sagte Jackson.
Viele Mapuche fordern seit Jahrzehnten den Rückzug der industriellen Forstwirtschaft mit ihren Plantagen schnell wachsender Baumarten wie Eukalyptus, die Unmengen an Wasser verbrauchen und die Böden auslaugen. Die Mapuche haben vor allem in der Zeit der Militärdiktatur viel Land an Großgrundbesitzer verloren. Offizielle Programme zur Rückgabe von Land verlaufen schleppend und unbefriedigend. Mapuche, die sich dagegen wehren, werden häufig kriminalisiert. Konflikte verlaufen oft gewaltvoll. Anfang November 2021 wurden zwei Mapuche durch Schüsse von Soldaten getötet und auch in diesem Jahr kam es bereits zu einer Reihe von gewaltvollen Auseinandersetzungen.
Die neue Verfassung, die seit Juli 2021 in einem Verfassungskonvent beraten wird, soll die Stellung der Indigenen grundlegend verbessern. Sie debattieren in dem Konvent mit, der unter dem Vorsitz der Mapuche-Linguistin Elisa Loncón steht. Der Konvent hat neun Monate Zeit, um seine Ergebnisse vorzulegen. Danach beginnt eine 60-Tage-Frist, nach der ein Referendum über die Annahme der neuen Verfassung entscheiden muss. Unter anderem soll Chile darin zum „plurinationalen und interkulturellen Staat“ erklärt werden. Damit würden die indigenen Völker Chiles ein Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwaltung erhalten. Zahlreiche weitere sozialpolitische Reformen stehen auf der Agenda der neuen Regierung. Das 24-köpfige Kabinett wird sich aus 14 Frauen und 10 Männern zusammensetzen. Erstmals werden das Außen-, Verteidigungs- und Innenministerium von Frauen geleitet.
Gesellschaft für bedrohte Völker / 09.03.2022
Foto: BirGün