Am 3. Mai ist internationaler Tag der Pressefreiheit. An diesem Tag wird unter anderem verfolgter und ermordeter Journalistinnen und Journalisten gedacht. Mit Dicle Müftüoğlu und Sedat Yılmaz begehen weitere zwei Medienschaffende in der Tradition der freien kurdischen Presse diesen Tag im Gefängnis. Ein Gericht in der türkischen Hauptstadt Ankara ordnete in der Nacht zu Mittwoch Untersuchungshaft gegen Müftüoğlu und Yılmaz an. Recep Tayyip Erdoğan will vor der Parlaments- und Präsidentenwahl am 14. Mai nichts dem Zufall überlassen und zieht die Schlinge um die verhassten unabhängigen Medien immer enger. Er hat seinen Justizapparat in Bewegung gesetzt, um die kritische Presse mundtot zu machen und unliebsame Berichterstattung zu verhindern.
Sechs kurdische Medienleute seit letzter Woche verhaftet
Seit Wochen schon sehen sich kurdische und linke Medieneinrichtungen in der Türkei in einem Belagerungszustand. Zahlreiche Journalistinnen und Journalisten wurden in den vergangenen Tagen bei Polizeioperationen festgenommen, vier von ihnen befinden sich seit Donnerstag in Haft. Dicle Müftüoğlu, die als Redakteurin für die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) arbeitet und Ko-Vorsitzende des Journalistenvereins Dicle-Firat (DFG) ist, und der MA-Korrespondent Sedat Yılmaz waren am Samstag auf Anordnung der Oberstaatsanwaltschaft Ankara in Amed (tr. Diyarbakir) festgenommen worden. In fünfzehn Städten hatte es zeitgleich Razzien gegeben, bei denen linke und kurdische Aktivist:innen und Medienleute festgesetzt wurden.
Journalist:innen nach Festnahme misshandelt
Dieses „Ermittlungsverfahren”, das wie auch bei den vorausgegangen Festnahmewellen gegen die Opposition mit einem „Anti-Terror-Etikett” versehen wurde, richtet sich gegen insgesamt 49 Personen. Der Vorwurf: Unterstützung für die PKK. Müftüoğlu und Yılmaz waren nach ihrer Festnahme nach Ankara überstellt worden und hatten über ihre Anwält:innen mitgeteilt, dass sie bei der Fahrt 15 Stunden lang mit Handschellen gefesselt gewesen seien und 24 Stunden lang nichts zu essen bekamen. Sedat Yılmaz soll zudem von den ihn begleitenden Polizisten misshandelt und gegen den Kopf getreten worden sein. Seinen Angaben zufolge wurde ihm nahegelegt, sich als Agent für die Polizei zu betätigen. Seine Rechtsanwältin Şule Recepoğlu hat Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Ankara eingereicht.
MA: Vorgehen gegen kurdische Presse genau geplant
„Die Anschuldigungen gegen Müftüoğlu und Yılmaz sind hochgradig absurd, bizarr und ein Produkt der Phantasie“, heißt es derweil in der MA-Redaktion. Dort ist man sich sicher, dass das Vorgehen der Regierung und Justiz gegen die Agentur und andere unabhängige Medien genau geplant ist, wenn auch schlecht vorbereitet. Sowohl die staatsanwaltliche als auch die richterliche Vernehmung beider Redaktionsmitglieder habe fast ausschließlich ihre journalistische Arbeit umfasst. Durch eine willkürliche Einstufung von MA und dem DFG als „illegale Einrichtungen“ solle versucht werden, die gesamte Tätigkeit von Müftüoğlu und Yılmaz als Presseleute zu kriminalisieren. Die Staatsanwaltschaft stütze sich bei ihrem Vorgehen hauptsächlich auf Aussagen von Informanten wie „Kerem Gökalp“, auf den auch in dem als Kobanê-Verfahren bekannten politischen Schauprozess gegen die HDP zurückgegriffen wird. Unklar ist allerdings, ob es sich überhaupt um eine reale Person oder nicht eher doch um einen fiktiven Charakter handelt, der aus der Feder des Innenministeriums stammt.
Mit „Terroristen“ im selben Gebiet im Netz eingeloggt
Müftüoğlu beispielsweise sei bei Gericht zu ihrer Beziehung mit Personen befragt worden, die sich laut „Kerem Gökalp“ mitgliedschaftlich für die PKK betätigen. Eine Auswertung ihrer Handydaten von 2013 bis 2020 hätte ergeben, dass sie in Städten wie Wan, Amed, Şirnex und Adana „zu bestimmten Zeiträumen zeitgleich mit Terrorverdächtigen in einem Gebiet“ im Netz eingeloggt gewesen sei. Daraus und unter anderem aufgrund einer Reise, die Müftüoğlu 2017 in die Kurdistan-Region des Irak (Südkurdistan) unternahm, lasse sich schließen, dass sie keine Journalistin sei, sondern „auf Anweisung der Terrororganisation“ handele. Müftüoğlu wies die Vorwürfe zurück und gab an, keine der genannten Personen zu kennen.
„Tatvorwürfe“ aus 2014 herausgekramt
Auch die Fragen an Sedat Yılmaz drehten sich demnach um seine Arbeit als Journalist. Neben Vorwürfen aus bereits eingestellten oder mit Freisprüchen beendeten „Terrorverfahren“ gegen den Reporter, die zum Gegenstand bei MA oder ihrer Vorgängerin DIHA erschienene Artikel hatten, lautete ein weiterer Tatvorwurf, dass er im Jahr 2014 als Übersetzer des türkischen Journalisten Veysi Sarısözen für eine Interview-Serie mit der PKK-Spitze in den Qendîl-Bergen in Südkurdistan wirkte. Zwischen 2013 und 2015 hatte ein „Dialog-Prozess“ zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung stattgefunden – Journalist:innen aus aller Welt reisten ganz offiziell ins Hauptquartier der PKK, um Interviews über die Gespräche zur Beilegung des Konflikts zu führen. Auch Yılmaz war damals im Rahmen des Friedensprozesses mit staatlichem Wissen in der Region. Zu dem Zeitpunkt arbeitete er zudem als Referatssekretär der Finanzabteilung der türkischen Journalistengewerkschaft TGS.
„Die Ordnung der Diebe endet in elf Tagen. Ihr Sturz ist so gut wie sicher“
Die türkische Justiz hat tief in die Kiste gegriffen, um die kurdische Presse noch rechtzeitig vor den Wahlen auszuschalten. Jene Kiste, die bei den Repressionsbehörden stets zur Hand ist und deren einziger Zweck ist, illegal beschaffte, manipulierte und fabrizierte Beweise zu enthalten. Mit Dicle Müftüoğlu und Sedat Yılmaz wurden auch drei weitere Personen verhaftet, darunter der Autor Erol Balcı. In vierzehn Fällen verhängte das Gericht sowohl polizeiliche Meldeauflagen als auch ein Ausreiseverbot. Betroffen davon sind auch Selma Yılmaz und Filiz Yılmaz, Ehepartnerin und Schwester von Sedat Yılmaz. Nach Verkündung der Untersuchungshaft rief der Journalist auf dem Korridor des Gerichts: „Die Ordnung der Diebe endet in elf Tagen. Ihr Sturz ist so gut wie sicher.“