Der türkische Rote Halbmond (Kızılay) steht in der Kritik, weil er Zelte für Erdbebenopfer an eine andere Hilfsorganisation nicht gespendet, sondern verkauft hat. Wie die Zeitung „Cumhuriyet“ am Sonntag berichtete, verkaufte der Rote Halbmond 2.050 Zelte an die private Hilfsorganisation AHBAP für umgerechnet knapp 2,3 Millionen Euro. Das sei ein „Skandal“, schrieb der Journalist Murat Ağırel.
„Die größte Wohltätigkeitsorganisation der Türkei, der Rote Halbmond, hat Zelte verkauft, anstatt sie kostenlos an die Bedürftigen zu verteilen, als die Menschen drei Tage nach dem Erdbeben um sie bettelten“, kritisierte Ağırel.
„Zum Selbstkostenpreis“
Der Leiter des Roten Halbmonds, Kerem Kınık, bestätigte im Kurznachrichtendienst Twitter, dass Kızılay Çadır & Tekstil, eine für die Herstellung der Zelte zuständige Tochtergesellschaft seiner Organisation, sie AHBAP „zum Selbstkostenpreis“ zur Verfügung gestellt habe. Dem Sender CNN Türk sagte er am Abend: „Hätte AHBAP für diese Zelte nicht angefragt, wären sie ohnehin von uns an [den Katastrophenschutz] AFAD ausgehändigt worden. Faktisch ist es so, dass wir die Zelte durch die Spenden an AHBAP ins Erdbebengebiet geschickt haben.“ Eine „moralische und rationale Zusammenarbeit“ sei das gewesen, so Kınık.
HDP: Zeugnis des moralischen Verdorbenseins
Zahlreiche Mitglieder der Oppositionsparteien forderten den Rücktritt Kınıks. „Jemand mit Würde und Charakter würde jetzt abdanken“, sagte der stellvertretende CHP-Vorsitzende Veli Ağbaba bei einem Besuch im erdbebenbetroffenen Meletî (tr. Malatya). Auf dem Twitter-Account der HDP war zu lesen: „Die Regierung und der von ihr beaufsichtigte Rote Halbmond, die unser Volk unter Trümmern zurückgelassen und es zu Tod, Kälte und Hunger verurteilt haben, verteidigen sogar jetzt noch ihren Handel mit Zelten. Die Erklärung des nicht hilfs- sondern profitorientierten Roten Halbmonds zu dem Vorgang ist ein Zeugnis des moralischen Verdorbenseins. Ihr werdet noch Rechenschaft ablegen.“
Gewalt und Festnahmen gegen TIP-Mitglieder
Protest gegen den Verkauf von Zelten durch Kızılay gibt es auch auf der Straße. Die türkische Arbeiterpartei (TIP) rief für Sonntagabend zu einer öffentlichen Presseerklärung in Istanbul auf, zu der es am Ende dann aber doch nicht auf der Straße, sondern im Büro kam. Die Zusammenkunft sollte vor der Kızılay-Zweigstelle im Stadtteil Kadıköy stattfinden, die Polizei rückte aber noch vor dem geplanten Beginn mit einem Großaufgebot an und umstellte den Ortsverband der Partei. Mehrere Mitglieder, darunter auch die TIP-Abgeordneten Barış Atay Mengüllüoğlu und Ahmet Şık, wurden im Eingangsbereich zu dem Gebäude eingekesselt und aufgefordert, die „verbotene Kundgebung“ aufzulösen.
Tip İstanbul il örgütünün eylemine sert müdahale edildi. Çok sayıda kişi gözaltına alındı. pic.twitter.com/6aRutCO8m7 — Yağmur Kaya (@yagmurkaya88) February 26, 2023
An anderer Stelle war es einer größeren Gruppe von TIP-Mitgliedern gelungen, sich loszulösen und „Regierung, tritt zurück!“ skandierend durch Kadıköy zu marschieren. Bis vor das Büro des Roten Halbmonds schafften sie es aber nicht. Sogenannte Anti-Aufruhr-Trupps schnitten der Menge auf Höhe der Süreyya-Oper den Weg ab und führten unter dem Einsatz von massiver Gewalt dutzende Festnahmen durch. Weitere Ingewahrsamnahmen fanden vor dem Büro der TIP statt. Unter den Betroffenen befinden sich nach Angaben der Istanbuler Ärztekammer auch mehrere Mediziner:innen, die im Erdbebengebiet tätig waren, sowie Aktivist:innen, die am Rande einen Hilfstransport der TIP vorbereiteten. Bisher wurden sie noch nicht freigelassen.
Kızılay’ı protesto eden İstanbul İl Örgütümüz önünde abluka sürerken; Barış Atay Mengüllüoğlu, Ahmet Şık ve üyelerimizin düzenlediği basın açıklamasına tekrar polis saldırdı.
Bu enkazın altından bu hükümet kalkamayacak. Gideceksiniz, yargılanacaksınız! #Hükümetİstifa pic.twitter.com/9jQc9Rvcq3 — Türkiye İşçi Partisi (@tipgenelmerkez) February 26, 2023
Schlechte Krisenreaktion, mangelnder Koordination und Organisation
Der türkischen Regierung wird vorgeworfen, in der Katastrophe komplett versagt und nach den verheerenden Erdbeben am 6. Februar in zahlreichen Orten der betroffenen Region weder genügend Zelte noch ausreichend humanitäre Hilfe verteilt zu haben. Auch seien nicht genügend Rettungsteams eingesetzt worden. Bis heute, drei Wochen nach den Erdbeben, gibt es weiterhin nicht ausreichend Zelte oder eine Vermittlung von Unterkünften – obdachlos Gewordene müssen sich selbst organisieren und auch sonst fehlt sehr vielen Menschen immer noch das Nötigste.
Erdoğan verteidigt Roten Halbmond
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte diejenigen, die den Roten Halbmond kritisiert hatten, als „Ehrenlose, Minderwertige, Unzüchtige“ beschimpft. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu warf Erdoğan daraufhin in einem Tweet vor, „die Erdbebenopfer zu beleidigen“. Inzwischen wurde bekannt, dass auch der türkische Apothekerverband (TEB) für Zelte des Roten Halbmonds bezahlen musste. Umgerechnet etwa 35.000 Euro verlangte die Hilfsorganisation nach Angaben des TEB-Vorsitzenden Arman Üney für insgesamt fünf Zelte, die für die Errichtung von Apotheken im Katastrophengebiet eingekauft worden seien.