Der türkische Staat versagt nicht nur bei der Hilfe für einen Großteil der Erdbebenopfer in Nordkurdistan, sondern behindert systematisch zivile Hilfe. Das Krisenkoordinationszentrum der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Markaz (tr. Pazarcik) wurde am Mittwoch von Soldaten besetzt und unter Zwangsverwaltung gestellt. Hilfskonvois werden aufgehalten und die Güter beschlagnahmt. Die Region um Elbistan am Epizentrum ist vollständig von der Armee besetzt. Unter dem Vorwand des Schutzes vor „Plünderern“ kam es wiederholt zu schweren Übergriffen auf Hilfsteams und Erdbebenopfer.
Tausende Freiwillige vom ersten Tag an
Während der türkische Staat die Menschen unter den Trümmern tagelang auf Hilfe warten ließ, reagierte die Zivilgesellschaft sofort und mobilisierte ihre Kräfte zur Versorgung der Erdbebenopfer in Gurgum (Maraş), Dîlok, Meletî, Semsûr (Adiyaman), Riha (Urfa), Amed (Diyarbakır), Kilis, Osmaniye, Adana und Hatay. Über das Krisenkoordinationszentrum der HDP wurden ohne staatliche Unterstützung 3.200 Freiwillige in die verschiedenen Katastrophengebiete entsandt und die Erbebenopfer mit 860 Fahrzeugen unterstützt.
Der rechtspolitische Sprecher der HDP, Serhat Eren, äußerte sich gegenüber der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) zur Situation im Erdbebengebiet und dem fatalen Vorgehen des Staates.
Staatliche Kräfte trafen erst nach Tagen ein
Obwohl Nordkurdistan eine der am stärksten militarisierten Regionen der Welt ist, wurde die dort stationierte Armee nicht für die Rettung von Erdbebenopfern eingesetzt. Stattdessen dauerte es Tage, bis die ersten staatlichen Helfer kamen. Eren erinnert daran, dass die Zivilgesellschaft vom ersten Tag an in der Erdbebenregion aktiv war, und sagt: „Wir sind durch die Dörfer und Bezirke gereist, um Bedarfslisten zu erstellen. Innerhalb kürzester Zeit konnten wir humanitäre Hilfe, Lebensmittel, Zelte sowie eine große Anzahl von Material zum Schutz vor der Kälte in die bedürftigen Regionen bringen. Wir schicken auch weiterhin Hilfsgüter. Nach dem Erdbeben waren Nichtregierungsorganisationen und Freiwillige vor Ort und versuchten, sich um alles zu kümmern, von der Bergung der Verschütteten aus den Trümmern bis zur Versorgung der Bedürftigen.“
Der HDP-Politiker kritisiert: „Leider versucht der Staat, von dem lange Zeit nichts zu sehen war, nun die Hilfe der NGOs und unserer Partei, die den Menschen dort vom ersten Tag an beigestanden haben, zu verhindern. So werden Zwangsverwalter eingesetzt, um die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die schon tagelang, als der Staat nicht präsent war, Opfer aus den Trümmern befreit und Menschen versorgt haben, einzuschränken.“
„Die Folgen des Erdbebens hängen mit der Zwangsverwaltung zusammen“
Eren sieht das Ausmaß der Erdbebenkatastrophe auch in der seit Jahren andauernden Politik der Ernennung von Zwangsverwaltern begründet. So haben die Zwangsverwalter in den Städten und Gemeinden, in denen sie seit 2015 an Stelle der gewählten HDP-Bürgermeister:innen ernannt wurden, systematisch Personal abgebaut. Die zwangsverwalteten Gemeinden konnten so praktisch keine Unterstützung für die Katastrophengebiete leisten. „Wären keine Zwangsverwalter ernannt worden, wären Tausende von Angestellten der Gemeinden und Städte vom ersten Tag an vor Ort gewesen, Hunderte von Baumaschinen wären in die Regionen gebracht worden und hätten bei der Rettung und Bergung von Menschen unter den Trümmern mitgewirkt“, erläutert Eren. „Unsere Gemeinden hätten für die Unterbringung der Menschen gesorgt und warme Mahlzeiten verteilt. Das Erdbeben hat die schwerwiegenden Folgen der Zwangsverwaltung offenbart.“
Bedarf an Unterbringung, Hygiene und Gesundheitsversorgung
Insbesondere die Frage der Unterbringung ist in den Erdbebengebieten dramatisch. Vor allem in vielen Dörfern um das Epizentrum in Gurgum sind noch keine Zelte angekommen und die Menschen leben bei zweistelligen Minusgraden in einsturzgefährdeten Ruinen oder im Freien. Die Gefahr von Nachbeben ist ebenfalls nicht gebannt. Am Freitag bebte die Erde in Meletî mit einer Stärke von 4,7 auf der Richterskala.
Eren bestätigt das Unterbringungsproblem und sagt: „Leider ist das Problem der Unterbringung der Menschen in den zehn vom Erdbeben betroffenen Provinzen noch nicht gelöst. Die Menschen leben immer noch in der Kälte bei Temperaturen von unter minus 15 Grad. Gleichzeitig besteht ein dringender Bedarf an Kleidung und Lebensmitteln. Die Kinder brauchen dringend Lebensmittel, Windeln und Mehl, Frauen brauchen Unterwäsche und Binden. Ein weiteres wichtiges Problem ist das Hygieneproblem und die Seuchengefahr, gegen die der Staat lange nicht bereit war, etwas zu unternehmen. Die Krankheiten fangen an, sich an einigen Orten auszubreiten. Deshalb müssen jetzt dringend provisorische Krankenhäuser eingerichtet werden, gleichzeitig müssen in kürzester Zeit Hygienematerialien und mobile Toiletten bereitgestellt werden. Andernfalls ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich die bereits ernste Lage noch weiter verschärft.“
Eine menschliche Herangehensweise ist nötig
Um sein Versagen zu verbergen, versuche der Staat, die Arbeit der Zivilgesellschaft und der HDP in der Region zu behindern, erklärt Eren und appelliert: „Dieser humanitären Krise muss menschlich begegnet werden. Es wird versucht, viele aus dem Ausland kommenden Materialien durch Beschlagnahme am Zoll zurückzuhalten. Diese Materialien müssen so schnell wie möglich an die bedürftigen Orte geliefert werden, aber leider versucht die Regierung, die in den ersten drei bis vier Tagen in keiner Weise vor Ort war, diejenigen, die zu diesem Zeitpunkt Unterstützung geleistet haben, daran zu hindern, weiterzuhelfen.“
Islamistische Sekten und „Regierungs-NGOs“ statt Zivilgesellschaft
Statt zivilgesellschaftlicher Hilfe werden nun islamistische Orden, Stiftungen und regierungsnahe Verbände vom Regime in die Region geschickt. Eren beschreibt die Lage: „Wir begannen vom ersten Tag an, vor Ort zu arbeiten und Hilfe zu leisten. Wir versuchten, den Menschen unter den Trümmern zu helfen, es waren keine regierungsnahen Organisationen, Gruppen oder religiöse Orden vor Ort. Doch die Regierung, die dafür verantwortlich ist, dass so viele Menschen verschüttet wurden und so viele Tote zu beklagen sind, versucht nun, ihre eigenen Verbrechen, Unzulänglichkeiten und Mängel zu vertuschen und zu beschönigen, indem sie den ihr nahestehenden Sekten und Organisationen die Möglichkeit gibt, vor Ort tätig zu werden. Gleichzeitig werden die zivilgesellschaftlichen Organisationen und die demokratischen Kreise, die seit dem ersten Tag an vor Ort tätig sind, an ihrer Arbeit gehindert. Denn wenn Berufsverbände und demokratische Organisationen und Kräfte humanitäre Hilfe leisten, bringen sie auch die unter den Trümmern liegende Realität des türkischen Staates zum Vorschein. Da die Zivilgesellschaft die Mängel und Inkompetenz des Staates und der Regierung, die zum Tod von so vielen Menschen geführt haben, aufgedeckt hat, wurden diese Kräfte aus der Region ausgeschlossen und an ihrer Stelle Gruppen eingesetzt, die der Regierung nahestehen und die keine Rechenschaft von der Regierung verlangen. So soll die verbrecherische Inkompetenz der Regierung vertuscht werden.“
„Wir werden weiter an der Seite unseres Volkes stehen“
Der HDP-Politiker kündigt trotz aller Hindernisse an, die Solidarität fortzusetzen. Er schließt mit den Worten: „Wir werden unserem Volk weiterhin zur Seite stehen, wie wir es am ersten Tag getan haben. Wir werden weiterhin diese Solidarität leben und versuchen, die Wunden der Menschen zu lindern. Ganz gleich, was die Regierung tut, wir werden unser Volk trotz aller Hindernisse nicht allein lassen. Wir werden bis zum Ende gegen die Hindernisse, die uns die Regierung in den Weg stellt, kämpfen. Diese Regierung hat unser Volk unter dem Schutt seinem Schicksal überlassen.“