Die Zahl inhaftierter Medienschaffender ist 2022 auf ein Rekordhoch angestiegen. Zum Stichtag 1. Dezember saßen weltweit mindestens 533 Journalistinnen und Journalisten wegen ihrer Arbeit im Gefängnis, so viele wie nie zuvor. Mehr als die Hälfte ist in den Gefängnissen von nur fünf Ländern inhaftiert: China, Myanmar, Iran, Vietnam und Belarus. Neu in dieser Gruppe ist der Iran, wo nach dem Ausbruch der landesweiten Proteste derzeit 47 Medienschaffende im Gefängnis sitzen. Auch die Zahl der inhaftierten Journalistinnen ist mit 78 so hoch wie nie zuvor. Im zu Ende gehenden Jahr 2022 sind weltweit zudem mindestens 57 Medienschaffende wegen ihrer Arbeit getötet worden, fast 19 Prozent mehr als im Vorjahr. Einer der Gründe für diesen Anstieg ist der Krieg in der Ukraine, wo acht Medienschaffende starben. Das zeigt die Jahresbilanz der Pressefreiheit, die Reporter ohne Grenzen (RSF) am Mittwoch (14.12.) veröffentlicht hat.
„Die Rekordzahl inhaftierter Medienschaffender zeigt, dass autoritäre Regime verstärkt dazu übergehen, unliebsame Journalistinnen und Journalisten einfach wegzusperren. In den meisten Fällen machen sie sich nicht einmal die Mühe, sie vor Gericht zu bringen“, sagte RSF-Vorstandssprecherin Katja Gloger. „Hinter den 533 inhaftierten Medienschaffenden stehen Schicksale von mutigen Journalistinnen und Journalisten, die für kritische Recherchen große Risiken eingehen und teils unter unmenschlichen Bedingungen im Gefängnis ausharren müssen.“
Unliebsame Journalisten werden weggesperrt
Nachdem RSF bereits 2021 ein Rekordhoch bei den inhaftierten Medienschaffenden verzeichnet hatte, ist die Zahl 2022 noch mal um rund 13 Prozent auf 533 angestiegen. In keinem Land sitzen mehr Journalistinnen und Journalisten im Gefängnis als in China (110), wo Zensur und Überwachung ein extremes Ausmaß angenommen haben. Gemessen an der Bevölkerungsgröße sind jedoch in Myanmar (62) mit Abstand die meisten Journalistinnen und Journalisten inhaftiert. In dem südostasiatischen Land ist Journalismus inzwischen faktisch eine Straftat, wie die große Zahl der nach dem Militärputsch vom Februar 2021 verbotenen Medien zeigt. In Vietnam (39) hat sich die Zahl der inhaftierten Medienschaffenden innerhalb von fünf Jahren verdoppelt. In Belarus zählte RSF in den vergangenen zwei Jahren mehr als 500 Festnahmen, 31 Medienschaffende sitzen immer noch hinter Gittern.
Aber auch in Russland greift das Regime seit dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hart durch. Die meisten der im Land verbliebenen Medienschaffenden sind gezwungen, angesichts der drakonischen Strafen im Untergrund zu arbeiten: Wenn sie „falsche Informationen“ über die russische Armee verbreiten, drohen ihnen bis zu 15 Jahre Gefängnis. Mindestens 18 Medienschaffende sind derzeit inhaftiert, darunter auch acht aus der Ukraine. Sie waren auf der Krim verhaftet worden, die Russland 2014 annektiert hat und die nun russischem Recht unterliegt.
Nur etwas mehr als ein Drittel der inhaftierten Medienschaffenden weltweit wurde verurteilt. Knapp 64 Prozent sitzen ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis; manche von ihnen warten seit mehr als 20 Jahren auf ihren Prozess.
Beispielloser Anstieg der Journalistinnen im Gefängnis
Auch die Zahl der inhaftierten Journalistinnen ist 2022 erneut auf ein Rekordhoch angestiegen. Derzeit sitzen mindestens 78 Journalistinnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit im Gefängnis, rund 28 Prozent mehr als zum gleichen Zeitpunkt im vergangenen Jahr. Mehr als 70 Prozent der inhaftierten Journalistinnen sitzen in vier Ländern im Gefängnis, die auf der Rangliste der Pressefreiheit die unteren Plätze belegen: In China (Rang 175) sitzen 19 weibliche Medienschaffende in Haft, im Iran (Rang 178) 18, in Myanmar (Rang 176) 10, in Belarus (Rang 153) 9.
Prominente Fälle sind etwa die chinesische Journalistin Zhang Zhan und die vietnamesische Journalistin Pham Doan Trang, die am 14. Dezember 2021 wegen „Propaganda gegen den Staat“ zu neun Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Im Iran zeigt die hohe Zahl der inhaftierten Journalistinnen, dass die Behörden Frauen systematisch zum Schweigen bringen wollen. Besonders besorgniserregend sind die Schicksale von Nilufar Hamedi und Elahe Mohammadi. Nach ihrer Verhaftung im September sind beide nun wegen „Propaganda gegen das System und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit“ angeklagt, worauf die Todesstrafe steht.
Krieg, organisierte Kriminalität und Korruption: Zahl der getöteten Medienschaffenden gestiegen
Nach zwei Jahren Abwärtstrend ist die Zahl der im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getöteten Journalistinnen und Journalisten wieder gestiegen. Im Jahr 2022 kamen 57 Medienschaffende ums Leben, fast 19 Prozent mehr als im Vorjahr. Einer der Gründe für diesen Anstieg ist die russische Invasion in die Ukraine, die in diesem Jahr mit acht getöteten Medienschaffenden das zweitgefährlichste Land weltweit für Medienschaffende wurde. Prominente Fälle sind der ukrainische Fotograf Maxim Lewin, der nach Erkenntnissen von RSF am 13. März gezielt von russischen Soldaten erschossen wurde, und der französische Videoreporter Frédéric Leclerc-Imhoff, der auf dem Weg zu Dreharbeiten in der Ostukraine durch einen Granatsplitter getötet wurde.
Mit fast 65 Prozent kam die Mehrzahl der 2022 getöteten Journalistinnen und Journalisten jedoch außerhalb von Kriegsgebieten ums Leben. Auch ihr Anteil ist gestiegen, was zum einen daran liegt, dass Medienschaffende nach der Aufhebung der Reisebeschränkungen wieder verstärkt vor Ort berichten. Zum anderen gelang es mehreren Staaten nicht, die bei ihnen grassierende Gewalt einzudämmen und Medienschaffende zu schützen. Allein in Mexiko wurden mindestens elf Journalistinnen und Journalisten ermordet. Der amerikanische Doppelkontinent war die gefährlichste Region für Journalistinnen und Journalisten: Fast die Hälfte aller getöteten Medienschaffenden kam dort ums Leben.
Knapp 80 Prozent aller 2022 getöteten Journalistinnen und Journalisten wurden aufgrund ihrer Arbeit gezielt ermordet. Besonders gefährlich waren, wie schon in den Vorjahren, Recherchen zu den Themen organisiertes Verbrechen und Korruption.
Wegen ihrer Arbeit entführt und verschwunden
Weltweit gelten derzeit mindestens 65 Medienschaffende als entführt, so viele wie im vergangenen Jahr. Nahezu alle Fälle konzentrieren sich wie 2021 auf drei Länder des Nahen Ostens: auf Syrien (42 Medienschaffende entführt), Irak (11) und den Jemen (11). Die Ausnahme bildet der französische Journalist Olivier Dubois, der 2021 in Mali entführt wurde.
Zwei Journalisten wurden 2022 als vermisst gemeldet. Dmitro Khyliuk, Journalist für die ukrainische Nachrichtenagentur UNIAN, wurde zuletzt am 4. März in Dymer gesehen, einem zu dieser Zeit von Russland besetzten Dorf 45 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Nach RSF-Informationen wurde er in der Folge nach Russland gebracht. Der mexikanische Journalist Roberto Carlos Flores Mendoza, Redakteur der Webseite Chiapas Denuncia Ya, wurde zuletzt am 20. September 2022 gesehen. Mit den beiden neuen Fällen steigt die Zahl der seit 2003 von RSF registrierten vermissten Journalistinnen und Journalisten auf 49.
Hongkong, Russland – und Julian Assange: dramatische Einzelschicksale
In der Jahresbilanz der Pressefreiheit blickt RSF auch auf besonders dramatische Einzelschicksale. Dem Journalisten Jimmy Lai, Gründer der 2020 von den Behörden geschlossenen Hongkonger Tageszeitung Apple Daily, und sechs seiner Mitarbeitenden droht unter dem drakonischen „Sicherheitsgesetz“ eine lebenslange Haftstrafe. Dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange droht die höchste Strafe von allen, die 2022 im Zusammenhang mit Journalismus angeklagt sind – bis zu 175 Jahre Gefängnis, sollte er aus Großbritannien an die USA ausgeliefert werden. Der russische Investigativjournalist Iwan Safronow wurde zu 22 Jahren Haft verurteilt, weil er „Staatsgeheimnisse“ offengelegt haben soll, obwohl diese bereits zuvor online verfügbar waren. In Kamerun muss der seit 2016 inhaftierte und gesundheitlich angeschlagene Journalist Amadou Vamoulké zahlreiche Gerichtsverfahren ertragen, ohne dass jemals Beweise gegen ihn vorgelegt wurden.
In der seit 1995 veröffentlichten Jahresbilanz der Pressefreiheit dokumentiert RSF die Zahlen der schwersten Übergriffe auf Medienschaffende weltweit im zu Ende gehenden Jahr. Das betrifft neben professionellen Journalistinnen und Journalisten auch Medienmitarbeitende wie Kamerafrauen oder Tontechniker sowie Bürgerjournalistinnen und -journalisten, die gerade in Ländern mit autoritären Regimen und in Kriegsländern eine wichtige Rolle bei der Recherche und Verbreitung politisch relevanter Nachrichten und Informationen spielen. Die Jahresbilanz berücksichtigt nur Fälle, in denen RSF nach sorgfältiger Prüfung davon überzeugt ist, dass die Genannten in direktem Zusammenhang mit ihrer journalistischen Tätigkeit Opfer von Gewalt, Angriffen oder Unterdrückung geworden sind. Alle Zahlen beziehen sich auf den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 1. Dezember 2022 oder sind Momentaufnahmen zum Stichtag 1. Dezember 2022.
Reporter ohne Grenzen (RSF) / 13.04.2022
Logo: Reporter ohne Grenzen (RSF)