Mehr als 20 zivilgesellschaftliche Organisationen richten sich in einem öffentlichen Aufruf gegen die Pläne der Europäischen Kommission zur massenhaften Überwachung von Kommunikation und Onlineinhalten. Auch Reporter ohne Grenzen (RSF) hat sich dem Aufruf angeschlossen.
Die Pläne würden massiv in die Grundrechte der gesamten europäischen Bevölkerung eingreifen und eine Überwachungsinfrastruktur von erschreckendem Ausmaß etablieren. Statt tatsächlich den Schutz von Kindern, also Prävention und Opferschutz, in den Mittelpunkt ihrer Maßnahmen zu stellen, setzt die Kommission auf eine vermeintliche „technische” Lösung, die Überwachung in demokratiegefährdendem Umfang ermöglicht.
„Dass der Schutz vor Kindesmissbrauch eine hohe Priorität hat, ist keine Frage, doch die geplanten Maßnahmen der EU-Kommission schießen am Ziel vorbei“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die Überwachung auch von Ende-zu-Ende-verschlüsselter Kommunikation hebelt de facto das Pressegeheimnis und den Quellenschutz aus. Informantinnen und Whistleblower können sich nicht mehr sicher sein, dass ihre Informationen geschützt sind und werden im Zweifel lieber schweigen.“
Verschlüsselung wird ausgehebelt
Im Mai hat die EU-Kommission einen Verordnungsentwurf zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch vorgelegt. Der Vorschlag sieht unter anderem vor, Kommunikations- und Hostingdiensteanbieter dazu zu verpflichten, sämtliche Inhalte aller Nutzenden nach verdächtigem Material zu durchleuchten und Verdachtsfälle an eine zentrale Stelle weiterzuleiten. Das würde bedeuten, dass beispielsweise Messengerdienste wie WhatsApp oder Signal private Chats aller Nutzerinnen und Nutzer durchsuchen müssten. Auch Maßnahmen wie verpflichtenden Alterskontrollen oder Netzsperren werden vorgeschlagen.
Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation ist im Verordnungsvorschlag ausdrücklich nicht ausgenommen. Das Durchleuchten verschlüsselter Kommunikation ist aber technisch nur möglich, wenn die Verschlüsselung insgesamt gebrochen oder untergraben wird – etwa indem das eigene Gerät mittels Technologien wie Client-Side-Scanning (CSS) zur Überwachung genutzt wird. Bei CSS werden versendete oder empfangene Dateien lokal auf dem Endgerät einer Person auf bestimmte Inhalte durchsucht, bevor diese weitergeleitet werden.
Da sämtliche elektronische Kommunikation – von Messengerdiensten über E-Mail bis zur Sprachtelefonie (betreffend „Grooming“, also dem Jüngermachen Erwachsener zum Anbahnen sexueller Beziehungen mit Minderjährigen) – sowie Hosting betroffen sein kann, würde dies zu einem faktischen Ende des elektronischen Brief- und Fernmeldegeheimnisses führen. Umsetzbar wäre dies nur durch den Aufbau einer umfassenden technischen Infrastruktur, die nicht nur fehler- und missbrauchsanfällig ist, sondern auch jederzeit um weitere Deliktsfelder erweitert werden kann.
Die Kampagne „Chatkontrolle stoppen” wendet sich entschieden dagegen und fordert von den politisch Verantwortlichen von diesen Plänen Abstand zu nehmen.
Tom Jennissen, von der Digitalen Gesellschaft e.V.: „Wir fordern die gesamte Bundesregierung und insbesondere das verhandlungsführende Bundesinnenministerium auf, entschieden gegen die dystopischen Pläne zur Chatkontrolle einzutreten. Sie muss endlich ihren Einfluss im Europäischen Rat geltend machen, um die Verordnung zu verhindern.“
Julia Witte, Digitalcourage e.V.: „Die Überwachungsinfrastruktur, die nötig wäre, um den Vorschlag der Kommission umzusetzen, widerspricht den grundlegenden Werten unserer Gesellschaft. Wenn keine unbeobachtete Kommunikation mehr möglich ist, ist das eine Katastrophe.“
Unterzeichner des Aufrufs:
Algorithmwatch
ArGE Tübingen
Berliner Wassertisch
ChaosComputerClub
D64 e.V.
Dachverband der Fanhilfen e.V.
Digitalcourage
Digitale Freiheit
Digitale Gesellschaft
DVD – Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V.
FifF – Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung
Gesellschaft für Informatik
Giordano-Bruno-Stiftung
Humanistische Union
Humanistische Union Berlin-Brandenburg
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Load e.V.
MOGiS e. V. – Eine Stimme für Betroffene
RAV – Republikanischer Anwält*innen- und Anwälteverein e.V.
Reporter ohne Grenzen
Superrr Lab
Whistleblower Netzwerk
Zwiebelfreunde e.V.
Reporter ohne Grenzen (RSF) / 10.10.2022
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