In einem offenen Brief rufen Reporter ohne Grenzen (RSF) und 22 weitere internationale Organisationen die Mitglieder des türkischen Parlaments dazu auf, ein neues Gesetz gegen angebliche Desinformationen abzulehnen. Unter anderem sieht das Gesetz bis zu drei Jahre Haft für die vorsätzliche Veröffentlichung von „Desinformationen und gefälschten Nachrichten” vor, die Angst schüren oder die innere und äußere Sicherheit des Landes, die öffentliche Ordnung oder die Gesundheit der Gesellschaft gefährden. Die Organisationen befürchten, dass mit dem Gesetz die Zensur im Internet weiter ausgeweitet und der „freie Fluss an Informationen” kriminalisiert wird.
Zu den Unterzeichnenden des Briefs gehören außer RSF unter anderem das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF), das International Press Institute (IPI), die Koalition für Frauen im Journalismus (CFWIJ) sowie das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ. Sie kritisieren, dass der 40 Artikel umfassende Gesetzentwurf die Begriffe „Desinformation” und „Vorsatz” nur vage definiere. So könnte das Gesetz von der Regierung benutzt werden, um die Veröffentlichung unliebsamer Informationen nach Gutdünken zu bestrafen. Dadurch seien Millionen Internetnutzerinnen und -nutzer in der Türkei von strafrechtlicher Verfolgung bedroht.
HDP: Gesetz soll Strafbarkeitslücke für Opposition schließen
Die Demokratische Partei der Völker (HDP) bezeichnete das am 27. Mai vorgelegte Gesetzesvorhaben der islamofaschistischen AKP und rechtsextremen MHP als verschärftes Zensurgesetz. „Im Kontext der systematischen Kriminalisierung nahezu aller politischen Aktivitäten und alternativen Berichterstattung in einem Land wie der Türkei, wo es feste Zensurmechanismen gibt und staatliche Unterdrückung allgegenwärtig ist, besteht der Hauptzweck dieser Art von Regulierung darin, eingeschränkte Rechte und Freiheiten vollständig zu beseitigen. Angestrebt wird eine Gesellschaft, die nicht hinterfragt, schweigt und sich selbst zensiert. ‚Desinformation‘ wird als neuer Straftatbestand eingeführt, um damit eine ‚Strafbarkeitslücke‘ für die Oppositionsparteien, Zivilgesellschaft und unabhängige Presse zu schließen, Medieneinrichtungen sowie Journalistinnen und Journalisten zur Selbstzensur zu zwingen und kritische Ansichten aus dem Weg zu räumen. Auf die Interessen der politischen Macht wird sich das vermeintliche Desinformationsgesetz selbstverständlich nicht auswirken.“
50 Prozent höhere Strafen für anonymes Veröffentlichen
Das Gesetz sieht 50 Prozent höhere Strafen für das anonyme Veröffentlichen angeblicher Desinformationen vor. Laut RSF werde dadurch die Anonymität im Internet „erheblich untergraben“. Die Organisation befürchtet Einschüchterung von Personen, die auf Korruption und Fehlverhalten aufmerksam machen wollen und deswegen Angst vor Identifizierung haben. Dagegen behauptet die Regierungskoalition in Ankara, ihr Entwurf stehe im Einklang mit dem Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) und der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union. RSF widerspricht dieser Darstellung; es gebe in keinem dieser Gesetze solche Bestimmungen. Juristische Verbände in der Türkei weisen darauf hin, dass das geplante Desinformationsgesetz gegen die Verfassung des Landes verstoßen würde.
Beştaş: Zeitpunkt der Jagd auf kurdische Journalisten kein Zufall
Im Dezember hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie bezeichnet. Damals kündigt er an, seine Regierung werde die Verbreitung gefälschter Nachrichten und Desinformationen im Internet unter Strafe stellen. „In die Hände der hochgradig politisierten türkischen Justiz gelegt, würde das Gesetz zu einem weiteren Instrument zur Belästigung von Journalisten und Aktivisten werden und könnte zu einer pauschalen Selbstzensur im Internet führen”, warnt Reporter ohne Grenzen. Meral Danış Beştaş, Vizefraktionsvorsitzende der HDP, sagte am Montag bei einer Pressekonferenz im türkischen Parlament: „Nachdem Recep Tayyip Erdoğan begriffen hat, dass er die Realität nicht ändern kann, versucht er zu verhindern, dass die Bevölkerung die Realität erfährt. Dass gerade in der jetzigen Phase, in der dieses krude Gesetz durchgebracht werden soll, eine Jagd auf kurdische Journalistinnen und Journalisten stattfindet und zwanzig von ihnen seit Tagen in Polizeihaft sind, dürfte alles andere als ein Zufall sein.“
Pressegesetz soll ausgeweitet werden
Der Entwurf sieht auch vor, das Pressegesetz auf Online-Nachrichtenseiten auszuweiten. Hinter dieser Maßnahme vermutet RSF den Versuch, regierungsnahe Nachrichtenseiten mit öffentlichen Geldern zu finanzieren. Denn unter das Pressegesetz gefasste Medien können laut RSF Werbegelder der offizielle Pressewerbeagentur Basin Ilan Kurumu (BIK) und Zugang zur Presseakkreditierung erhalten. Letztere soll nur an Medienvertreterinnen und -vertreter ausgehändigt werden, die volljährig sind, ihr Abitur abgelegt haben und nicht für den öffentlichen Dienst gesperrt sind.
Vertreter:innen der Presse, Journalistenverbände oder Gewerkschaften hat die Regierung in der Entwurfsphase des Gesetzes nicht angehört, kritisiert RSF. Dabei seien diese Gruppen am stärksten von der Gesetzgebung betroffen. Freie Meinungsäußerung und unabhängiger Journalismus könnten nur garantiert werden, wenn Initiativen gegen Desinformation in enger Absprache mit den Medienmachern und anderen Interessensgruppen entwickelt würden. Ansonsten könne sie die Regierung „willkürlich” für Zensur missbrauchen.
Defekte Gewaltenteilung
Aktuell liegt der Gesetzentwurf dem Parlament vor. Die Autor:innen des offenen Briefs zweifeln aber eine gewissenhafte Kontrolle durch die Abgeordneten an. „Die Rolle des Parlaments wurde durch das Präsidialsystem so stark untergraben, dass der Gesetzentwurf ohne angemessene Prüfung oder Debatte durchgepeitscht wird und voraussichtlich innerhalb weniger Tage in Kraft treten wird.” Die Unterzeichnenden rufen die Abgeordneten dazu auf, den Entwurf abzulehnen, wenn sie „an den parlamentarischen Prozess und den freien Fluss von Ideen und Informationen als zentral für eine demokratische Gesellschaft” glauben.
Türkei – größtes Gefängnis für Journalisten
Die Türkei gehört weltweit zu den repressivsten Staaten gegenüber Medienschaffenden. Nach Angaben des in Amed ansässigen Journalistenvereins Tigris-Euphrat (Dicle Fırat Gazeteciler Derneği, kurz: DFG) befinden sich aktuell 60 Medienschaffende in türkischen Gefängnissen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von RSF rangiert die Türkei auf Platz 149 von 180.