Die EU-Kommission hat Montag die Wachstumsaussichten für die EU nach unten und die Inflationsprognose nach oben korrigiert. „Russlands Invasion der Ukraine verursacht vor allem unermessliches Leid und Zerstörung, erschwert aber auch die wirtschaftliche Erholung Europas“, so EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. Für die EU wird nun ein reales BIP-Wachstum von 2,7 Prozent im Jahr 2022 und 2,3 Prozent im Jahr 2023 erwartet; in der Zwischenprognose vom Winter 2022 war noch von 4,0 Prozent und 2,8 Prozent ausgegangen worden. Die Inflation, die seit Anfang 2021 angezogen hat, kletterte im Vorjahresvergleich von 4,6 Prozent (letztes Quartal 2021) auf 6,1 Prozent (erstes Quartal 2022). „Der Krieg hat zu einem rasanten Anstieg der Energiepreise und weiteren Unterbrechungen der Lieferketten geführt, sodass wir nun längerfristig mit einer höheren Inflation rechnen müssen“, sagte Gentiloni bei der Vorstellung der Frühjahrsprognose der Kommission.
EU-Kommssiar Gentiloni betonte weiter. „Der kräftige wirtschaftliche Aufschwung des vergangenen Jahres wird sich in diesem Jahr weiter positiv auf die Wachstumsraten auswirken. Ein starker Arbeitsmarkt, die Wiederöffnung nach der Pandemie und NextGenerationEU dürften unsere Volkswirtschaften weiter unterstützen und dazu beitragen, den öffentlichen Schuldenstand und die Defizite zu verringern. Diese Prognose ist jedoch mit hoher Unsicherheit und Risiken behaftet, die in großem Maße von der Entwicklung des russischen Krieges abhängen. Es sind durchaus noch andere Szenarien möglich, in denen das Wachstum möglicherweise geringer und die Inflation höher als in unseren heutigen Prognosen ausfallen.“
Vor Kriegsausbruch zeichnete sich in der EU ein anhaltendes und kräftiges Wirtschaftswachstum ab. Die russische Invasion der Ukraine stellt die Union, die sich gerade erst von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie erholt hat, jedoch vor neue Herausforderungen. Durch den anhaltenden Aufwärtsdruck auf die Rohstoffpreise und die damit verbundenen erneuten Lieferunterbrechungen und die zunehmende Unsicherheit verschärft der Krieg Gegenwinde, die sich laut vorherigen Prognosen bereits hätten abschwächen sollen.
Krieg belastet Wachstum zusätzlich
Das BIP der EU dürfte im Prognosezeitraum dank des kombinierten Effekts der Wiederöffnung nach dem Lockdown und der entschlossenen politischen Maßnahmen zur Förderung des Wachstums während der Pandemie positiv bleiben. Insbesondere die Wiederaufnahme kontaktintensiver Dienstleistungen nach der Pandemie, ein starker und sich weiter verbessernder Arbeitsmarkt, eine geringere Anhäufung von Ersparnissen sowie fiskalpolitische Maßnahmen zum Ausgleich steigender Energiepreise dürften den privaten Verbrauch stützen. Ferner dürfte die vollständige Inanspruchnahme der Aufbau- und Resilienzfazilität und die Umsetzung der begleitenden Reformagenda Investitionen begünstigen.
Sowohl für die EU als auch für das Euro-Währungsgebiet wird nun ein reales BIP-Wachstum von 2,7 Prozent im Jahr 2022 und 2,3 Prozent im Jahr 2023 erwartet; in der Zwischenprognose vom Winter 2022 war noch von 4,0 Prozent und 2,8 Prozent (2,7 Prozent für das Euro-Währungsgebiet) ausgegangen worden. Die Herabstufung für 2022 ist vor dem Hintergrund der Wachstumsdynamik der Wirtschaft im Frühjahr und Sommer letzten Jahres zu sehen, die sich bei der jährlichen Wachstumsrate in diesem Jahr in einem Plus von zwei Prozentpunkten niederschlägt. Das Produktionswachstum hat sich im Laufe des Jahres von 2,1 Prozent auf nunmehr 0,8 Prozent verringert.
Am stärksten werden die Volkswirtschaften in der EU und weltweit von den Preisen für Energieerzeugnisse getroffen. Auch wenn nach den Tiefständen während der Pandemie hier bereits vor dem Krieg ein erheblicher Anstieg zu verzeichnen war, so hat die Unsicherheit bei den Lieferketten die Preise weiter nach oben getrieben und ihre Volatilität erhöht. Dies gilt für Nahrungsmittel wie auch für andere grundlegende Waren und Dienstleistungen; gleichzeitig sinkt die Kaufkraft der privaten Haushalte.
Zu den Störungen im Welthandel aufgrund der drastischen Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 in Teilen Chinas kommen nun kriegsbedingte Logistik- und Lieferkettenunterbrechungen sowie steigende Betriebsmittelkosten für zahlreiche Rohstoffe hinzu, die die Produktion zusätzlich belasten.
Energiepreise treiben Inflation auf Rekordhoch
Die Inflation, die seit Anfang 2021 angezogen hat, kletterte im Vorjahresvergleich von 4,6 Prozent (letztes Quartal 2021) auf 6,1 Prozent (erstes Quartal 2022). Bei der Gesamtinflation im Euro-Währungsgebiet ist ein drastischer Anstieg auf 7,5 Prozent im April zu verzeichnen – der höchste Stand in der Geschichte der Währungsunion.
Für das Euro-Währungsgebiet wird eine Inflation von 6,1 Prozent im Jahr 2022 erwartet, die dann im Jahr 2023 auf 2,7 Prozent sinken dürfte. Für das Jahr 2022 insgesamt ist dies gegenüber der Zwischenprognose vom Winter 2022 (3,5 Prozent) eine deutliche Korrektur nach oben. Die Inflation dürfte im zweiten Quartal dieses Jahres mit 6,9 Prozent ihren Höchststand erreichen und danach allmählich zurückgehen. In der EU wird die Inflation voraussichtlich von 2,9 Prozent im Jahr 2021 auf 6,8 Prozent im Jahr 2022 steigen und dann im Jahr 2023 auf 3,2 Prozent sinken. Für die Jahre 2022 und 2023 wird sowohl in der EU als auch im Euro-Währungsgebiet eine durchschnittliche Kerninflation von über 3 Prozent erwartet.
Starker und sich weiter verbessernder Arbeitsmarkt
Der Arbeitsmarkt verfügt in der neuen Krise über eine solide Grundlage. Im Jahr 2021 wurden in der EU-Wirtschaft mehr als 5,2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen und durch den attraktiveren Arbeitsmarkt fast 3,5 Millionen mehr Menschen in Beschäftigung gebracht. Zudem ging die Zahl der Arbeitslosen um fast 1,8 Millionen zurück. Die Arbeitslosenquoten sanken Ende 2021 unter das Rekordtief der Vorjahre.
Die Lage am Arbeitsmarkt wird sich voraussichtlich weiter verbessern. Die Beschäftigung in der EU dürfte in diesem Jahr um 1,2 Prozent zulegen, wenngleich diese jährliche Steigungsrate vor allem durch die starke Dynamik in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres gestützt wird. Die Arbeitsmarktintegration von Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine in die EU fliehen, verläuft nur schrittweise und dürfte erst ab nächstem Jahr spürbar sein.
Die Arbeitslosenquote wird voraussichtlich weiter zurückgehen, und zwar auf 6,7 Prozent in diesem Jahr bzw. 6,5 Prozent im Jahr 2023 in der EU und auf 7,3 Prozent bzw. 7,0 Prozent in den Jahren 2022 und 2023 im Euro-Währungsgebiet.
Staatliche Defizite weiter rückläufig, aber Kostenanstieg infolge des Krieges
Trotz der Kosten für Maßnahmen zur Milderung der Auswirkungen hoher Energiepreise und zur Unterstützung von Flüchtlingen aus der Ukraine dürfte das gesamtstaatliche Defizit in der EU in den Jahren 2022 und 2023 weiter zurückgehen, da befristete COVID-19-Unterstützungsmaßnahmen nach und nach zurückgefahren werden. Den Prognosen zufolge wird das Defizit in der EU von 4,7 Prozent des BIP im Jahr 2021 auf 3,6 Prozent des BIP im Jahr 2022 und auf 2,5 Prozent des BIP im Jahr 2023 zurückgehen (3,7 Prozent bzw. 2,5 Prozent im Euro-Währungsgebiet).
Nach einem Rückgang von einem historischen Höchststand von fast 92 Prozent des BIP im Jahr 2020 (fast 100 Prozent im Euro-Währungsgebiet) auf rund 90 Prozent (97 Prozent im Euro-Währungsgebiet) im Jahr 2021, dürfte die Gesamtschuldenquote der EU im Jahr 2022 auf rund 87 Prozent und im Jahr 2023 auf 85 Prozent (95 Prozent bzw. 93 Prozent im Euro-Währungsgebiet) zurückgehen und damit weiterhin über dem Niveau vor der COVID-19-Krise bleiben.
Kriegsverlauf bestimmt Unsicherheit und Risiken
Die Risiken, mit denen die Konjunktur- und Inflationsprognose behaftet ist, hängen in hohem Maße vom Kriegsverlauf und insbesondere von den damit verbundenen Auswirkungen auf die Energiemärkte ab.
Angesichts der hohen Unsicherheit wird die Basisprognose von einer modellgestützten Szenarioanalyse begleitet, in der die Auswirkungen höherer Preise für Energieerzeugnisse sowie einer vollständigen Einstellung von Gaslieferungen aus Russland simuliert werden. In letzterem drastischeren Szenario würden die BIP-Wachstumsraten 2022 und 2023 etwa 2,5 Prozentpunkte bzw. 1 Prozentpunkt unter dem prognostizierten Basisszenario liegen, während die Inflation 2022 um 3 Prozentpunkte und 2023 um mehr als 1 Prozentpunkt über der Basisprojektion liegen würde.
Zusätzlich zu solchen potenziellen Unterbrechungen der Energieversorgung könnten unerwartet große Probleme bei den Lieferketten sowie ein weiterer Anstieg der Preise für nicht-energetische Rohstoffe, insbesondere Nahrungsmittel, zu einem zusätzlichen Abwärtsdruck auf das Wachstum und einem Aufwärtsdruck auf die Preise führen. Sollten die Zweitrundeneffekte infolge einer importierten Inflation und eines damit verbundenen Inflationsschocks stärker als erwartet ausfallen, könnte dies die Gefahr einer Stagflation deutlich erhöhen. Ein starker Inflationsdruck birgt auch erhöhte Risiken für die Finanzierungsbedingungen. Zudem bleibt COVID-19 ein Risikofaktor.
Abgesehen von diesen unmittelbaren Risiken führt Russlands Invasion der Ukraine zu einer wirtschaftlichen Abschottung der EU von Russland, deren Folgen zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer einzuschätzen sind.
Hintergrund
Die Prognose basiert auf einer Reihe technischer Annahmen für Wechselkurse, Zinssätze und Rohstoffpreise mit Stichtag 29. April. Bei allen anderen herangezogenen Daten, auch den Annahmen zu staatlichen Maßnahmen, wurden in dieser Prognose Informationen bis einschließlich 29. April berücksichtigt. Den Projektionen liegt die Annahme einer unveränderten Politik zugrunde, es sei denn, es wurden konkrete neue politische Maßnahmen angekündigt.
Die Europäische Kommission veröffentlicht jedes Jahr zwei umfassende Prognosen (im Frühjahr und im Herbst) und zwei Zwischenprognosen (im Winter und im Sommer). Die Zwischenprognosen enthalten jährliche und vierteljährliche BIP- und Inflationszahlen für das laufende und das folgende Jahr für alle Mitgliedstaaten sowie die aggregierten Zahlen für die EU insgesamt und für das Euro-Währungsgebiet.
In ihrer im Juli 2022 zu veröffentlichenden Sommerprognose 2022 wird die Europäische Kommission aktualisierte BIP- und Inflationsprojektionen vorlegen.
EU-Kommission / 16.05.2022
Foto: EU-Kommission