Immer mehr Deutsche beziehen wegen einer psychischen Erkrankung eine Erwerbsminderungs-(EM)-Rente. Wie Erhebungen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) ausweisen, wurde 2020 nahezu jede zweite EM-Rente wegen psychischer Erkrankung bewilligt. Und die Rentenversicherung erwartet – nicht zuletzt aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie – keinen Bruch dieses Trends, keine Entspannung bei Neuanträgen – im Gegenteil! Eine der häufigsten diagnostischen Begründungen für die Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente sind dauerhafte depressive Störungen.
Doch klären wir zunächst einmal, was überhaupt eine Erwerbsminderungsrente ist und wer Anspruch darauf hat. Die Definition der DRV lautet: Wenn eine Person aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeitsfähig ist, soll eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ihr Einkommen ersetzen. Kann man noch einige Stunden täglich arbeiten, ergänzt die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung das Einkommen, das noch selbst erzielt wird. Dabei ist zu beachten, dass für eine EM-Rente die sogenannte Regelaltersgrenze, also der Zeitpunkt, an dem man die reguläre Altersrente beziehen kann, noch nicht erreicht sein darf!
Wenn die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten auch durch eine medizinische Rehabilitation nicht mehr zu verbessern ist, prüft die Rentenversicherung, wie viel der oder die Betroffene noch arbeiten kann. Von dieser Beurteilung hängt dann ab, ob man für eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung infrage kommt. Eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bekommt, wer wegen Krankheit oder Behinderung weniger als drei Stunden täglich arbeiten kann – und zwar nicht nur im bisherigen Job, sondern in allen Tätigkeiten.
2020 war „das Jahr der Erwerbsminderungsrente“
Nach Auskunft der Rentenversicherung bekamen 2020 mehr als 175.000 Deutsche erstmals oder wieder neu eine Rente wegen Erwerbsminderung. Gemessen an 2019 wurden demnach 14.000 EM-Renten mehr bewilligt. Deshalb bezeichnet die DRV 2020 als „das Jahr der Erwerbsminderungsrente“.
Auch der totale Wert der EM-Renten erhöhte sich demnach, insbesondere wegen psychischer Erkrankungen. Fast jede zweite EM-Rente sei deswegen bewilligt worden, berichtet der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland. Die häufigsten Diagnosen dabei lauten: Angststörungen, Depressionen, Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit. Die Rentenversicherung untermauert ihren Befund von der Tendenz zu immer mehr Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Probleme mit beeindruckenden Zahlen: So erhielten im Jahr 2000 noch rund 51.500 Menschen erstmals eine Erwerbsminderungsrente wegen einer psychischen Erkrankung. 2020 waren es bereits rund 73.000! Das entspreche einem Anstieg um rund 42 Prozent in diesem Zeitraum, betont die Organisation. Oder, wie es Rüdiger Herrmann, Vorsitzender der Vertreterversammlung der DRV Bund, anders verdeutlicht: Im Jahr 2000 entfielen noch 24,2 Prozent der erstmals gezahlten Erwerbsminderungsrenten auf psychische Leiden. 2020 waren es bereits 41,5 Prozent.
Stigmatisierung lässt nach
Den Grund für diese Entwicklung sieht die Rentenversicherung insbesondere darin, dass psychische Erkrankungen immer häufiger erkannt und diagnostiziert werden. Gleichzeitig ging die Stigmatisierung in der Gesellschaft bei diesem Thema zurück und ist auch weiterhin rückläufig. Die Sensibilisierung für das Thema der psychischen Erkrankungen nahm demnach in der Öffentlichkeit zu, nicht zuletzt wegen Medienberichten über prominente Betroffene. „Viele Leute merken, dass auch Prominente wie Schauspieler und Sportler über psychische Krankheiten reden und sich diesbezüglich outen“, weiß auch Benedikt von Braunmühl, Vorstandsvorsitzender der auf die innovative Therapie von psychiatrischen Krankheiten spezialisierten Münchner Gesellschaft HMNC Brain Health. Das Unternehmen hat als bislang einzigartigen Ansatz eine personalisierte psychiatrische Therapie von Depressionen entwickelt. Mittels dieser sogenannten Präzisions-Psychiatrie lassen sich zum Beispiel die individuell wirksamsten Medikamente zur Behandlung von psychischen Erkrankungen bestimmen.
Auch von Braunmühl rechnet mit einer weiteren Zunahme der Fälle von psychischen Krankheiten. „Was für eine Welle da auf uns zurollt, ist, so glaube ich, noch sehr wenigen bewusst“, warnt er. Seine Einschätzung deckt sich mit den Befürchtungen der Rentenversicherung: Von einer Entspannung dürfe keine Rede sein, stellt auch die DRV fest. Sie weist in dem Zusammenhang zudem darauf hin, dass erst die Statistik 2021 zeigen werde, was die Corona-Pandemie noch an neuen EM-Rentnern gebracht hat. Wir ahnen nichts Gutes, heißt es deshalb bei der DRV.
Links:
- https://www.deutsche-rentenversicherung.de/Bund/DE/Presse/
Pressemitteilungen/pressemitteilungen_archive/2021/
2021_11_30_psych_erkrankungen_erwerbsminderung.html - https://rentenbescheid24.de/fast-jede-zweite-em-rente-wegen-psychischer-erkrankung-bewilligt/
- https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Erwerbsminderungsrente-Psychische-Erkrankungen-als-dominierende-Ursache-420706.html
Studiengesellschaft für die Gesundheit der Psyche e.V. / 03.05.2022