In zahlreichen Städten Nordkurdistans wird an diesem Samstag das kurdische Neujahrsfest Newroz begangen, um den Frühling zu begrüßen und den Willen der kurdischen Gesellschaft zum Widerstand gegen Unterdrückung und Barbarei zu demonstrieren. Auch wenn Schneefall und Temperaturen um den Gefrierpunkt manche Orte mit einer weißen Schicht überziehen ließen, füllten sich die Plätze bereits früh. Das Motto der diesjährigen Feierlichkeiten lautet „Jetzt ist die Zeit des Erfolgs“.
Das Fest soll den Auftakt für Freiheit und Frieden in Kurdistan und ein Ende der weltweiten Kriege und Machtkämpfe bringen. In der diesjährigen Newroz-Deklaration heißt es dazu: „Wir rufen die Völker dazu auf, Nein zum Krieg zu sagen und eine Barrikade des Friedens gegen die Kriegspolitik ihrer Staaten zu errichten.“ Mit Blick auf Kurdistan wird in dem Papier von einem „totalitären Kriegskonzept gegen das kurdische Volk“ gesprochen, an dem die AKP/MHP-Regierung mit ihren „neoosmanischen Träumen“ in allen Teilen Kurdistans festhalte. Das diesjährige Newroz werde deshalb als Fest der Freiheit und des Sieges gefeiert – um die Begeisterung, Wut und den Aufstand zu vergrößern und die Forderung nach Freiheit lautstark zur Sprache zu bringen.
Newroz im verschneiten Patnos in Agirî
Die Hauptforderung der diesjährigen Newroz-Feiern lautet „Freiheit für Abdullah Öcalan“ – der trotz seiner Bemühungen für Frieden und eine Lösung der kurdischen Frage seit 23 Jahren rechtswidrig im Isolations- und Foltersystem auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten wird. Auch wird die Entlassung aller politischen Gefangenen gefordert, insbesondere kranke Inhaftierte müssten unverzüglich aus der Haft kommen. Ein weiteres Thema ist die Wirtschaftskrise in der Türkei, die zu einer Verarmung breiter Bevölkerungsteile führt.
Şirnex
In der Provinz Şirnex startete die Feier mit einer Schweigeminute für die Toten von Newroz 1992. Am 21. März jenes Jahres verwandelten türkische Sicherheitskräfte das Neujahrsfest in der Kreisstadt Cizîr in ein Blutbad. Aufnahmen, die um die Welt gingen, zeigten Frauen, Kinder, junge und ältere Menschen in bunten Trachten, die sich auf einem öffentlichen Platz versammelt hatten, um Newroz zu feiern. Soldaten und Paramilitärs schossen ohne Vorwarnung in die Menge. Es starben mindestens 50 Menschen, darunter zwölf Kinder. Die anschließende Protestwelle in Cizîr und der Provinzhauptstadt Şirnex führte zu etwa 100 weiteren Toten.
Ganz vorne in Şirnex vor allem junge Menschen
Nach der Schweigeminute wurde gemeinsam das Widerstandslied Çerxa Şoreşê (Das Rad der Revolution) gesungen. Als Rednerinnen traten die HDP-Abgeordneten Ayşe Acar Başaran und Nuran Imir auf. Beide Politikerinnen zeigten sich zuversichtlich, dass das „neue Leben“ mit einem freien Öcalan und einem gelösten Kurdistan-Konflikt in naher Zukunft beginnen werde. Anschließend entzündeten Imir und Başaran gemeinsam mit einer Gruppe Frauen von der Initiative der Friedensmütter das traditionelle Newroz-Feuer. Die Feier wird mit einem musikalischen Bühnenprogramm fortgesetzt.
Tanzende Frauen und Männer in Qilaban (Uludere)
In der Gemeinde Basan (Güçlükonak) wurde erstmals nach acht Jahren wieder ein Newroz-Feuer entzündet.
Basan
Kerboran
In Kerboran (tr. Dargeçit) bei Mêrdîn trat unter anderem die HDP-Sprecherin Ebru Günay als Rednerin auf. Die Politikerin gratulierte zunächst zum Newroz und grüßte sodann die anwesende Familie der politischen Gefangenen Garibe Gezer, die im Dezember nach erlittener Folter unter verdächtigen Umständen in türkischer Haft ums Leben kam. Daran anschließend erklärte Günay: „Das kurdische Volk will Freiheit und Freiheit. Diese nur allzu menschlichen Forderungen werden von den Herrschenden ignoriert und mit Krieg und Isolation beantwortet. Doch wenn es die Demokratie wirklich geben soll, von der selbst diese Regierung immer wieder spricht, bleibt den Herrschenden nichts anderes übrig, als die kurdische Frage zu lösen und den politischen Willen dieses Volkes zu akzeptieren. Sie müssen ihren Blick auf Imrali richten. Der Schlüssel aller Probleme befindet sich auf der Insel.“
Auch in Kerboran stachen besonders viele junge Menschen in Feierlaune hervor
Qoser
In Qoser (Kızıltepe) wurde die Menge von der HDP-Abgeordneten Pero Dündar begrüßt. Das politische Urgestein Ahmet Türk appellierte an die politischen Parteien und Führungspersönlichkeiten in allen Teilen Kurdistans, sich für eine nationale Einheit der kurdischen Gesellschaft einzusetzen.
Ahmet Türk war zuletzt Ko-Bürgermeister von Mêrdîn und wurde 2019 auf Betreiben der Regierung abgesetzt
Xarpêt
In Dep (Karakoçan) bei Xarpêt (Elazığ) wurde das Newroz-Feuer von Arife Doğan entzündet. Es handelt sich um die Schwester von Mazlum Doğan, der der kurdischen Gesellschaft als „zeitgenössischer Kawa“ gilt. Mazlum Doğan war Führungskader der PKK und zu Beginn der 80er Jahre im „Kerker von Amed“ inhaftiert. Am 21. März 1982 leitete er dort mit einer Selbstverbrennungsaktion an Newroz den Widerstand gegen die türkische Militärjunta ein.
Sprung über das Feuer als Symbol dafür, altes hinter sich zu lassen und neues zu begrüßen
Pirsûs
Das diesjährige Newroz in Pirsûs (Suruç) in der Provinz Riha (Urfa) wurde Emine Şenyaşar gewidmet. Die Seniorin ist die Witwe von Hacı Esvet Şenyaşar und Mutter der gemeinsamen Söhne Celal und Adil. Die drei Männer wurden wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 Opfer von Lynchmorden, die in Pirsûs am Rande einer Wahlkampftour des AKP-Abgeordneten Ibrahim Halil Yıldız durch dessen bewaffnete Bodyguards und Verwandte ausgeführt wurden. Die Ko-Vorsitzende des HPD-Provinzverbands Çiğdem Karakeçili erklärte: „Gewinnt Emine Şenyaşar ihren Kampf um Gerechtigkeit für ihre Familie, gewinnt das kurdische Volk.“
Tanzende Frauen in Pirsûs
Dersim
Die Feier in Dersim fand unter Schneefällen statt. Da der Seyit-Riza-Platz im Stadtzentrum nicht alle Feiernden beherbergen konnte, steuerte ein Teil der Menge das nahegelegene Künstlerviertel an.
Weitere Feiern finden heute unter anderem in Reşqelas (Iğdır), Bismîl und Colemêrg (Hakkari). Auch in zahlreichen Städten im Westen der Türkei wird Newroz bereits gefeiert.