Die russische Ukraine-Invasion kam nicht unerwartet: Washington hatte die Merkel-Regierung bereits im Oktober 2021 darüber informiert, dass eine Invasion bevorstand. Offenbar nahmen weder die Merkel-Regierung noch ihre Nachfolger die Warnung der US-Regierung ernst oder waren vielleicht zu sehr mit der Frage der Regierungsbildung beschäftigt. Kanzler Scholz, der ansonsten durch Schweigen, zögerliche Haltung und unklare Äußerungen bekannt ist, hat dann am 27. Februar im Bundestag überraschend eine „Zeitenwende“ in der Außen- und Militärpolitik verkündet. Offenbar hatten die „Öffentlichkeit“ und Polit-Analysten vergessen, was Scholz bereits 2011 gesagt hatte: „Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch“.¹ Die deutsche Bevölkerung reagierte prompt: Nach der spektakulären Rede im Bundestag befinden sich Scholz und die SPD in den Umfragen im Aufwind.²
„Zeitenwende“ beendet die Ära nach 1945
Die „Zeitenwende“ wird sicherlich nicht nur Auswirkungen auf die zukünftige deutsche Außen- und Militärpolitik haben. Auch wenn es nicht in der Absicht der Sozialdemokraten und Grünen liegen sollte, wird die „Zeitenwende“ dazu führen, dass das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte noch mehr verdrängt und vergessen wird. Deutschland übernimmt bei der Verteidigung von Frieden und Freiheit eine militärische Rolle im Lager der Guten. Die unterschwellige Botschaft lautet: Hitler gehört nun endgültig der Vergangenheit an, jetzt gibt es mit Putin einen neuen „Tyrannen“ und nicht die Deutschen, sondern die Russen sind nun die Barbaren, die eine Bedrohung für die „freie Welt“ darstellen. Im Mittelpunkt der neuen deutschen Geschichtsschreibung könnte in Zukunft der heroische Kampf Deutschlands gegen Putin und die Russen stehen.
Der Militärisch-Industrielle-Komplex kann sich über die angekündigten 100 Milliarden Euro freuen und wird in Zukunft eine weitaus bedeutendere Rolle spielen als der Zweckgemeinschaft bislang zugestanden wurde. Für das deutsche Militär werden sich mit der „Zeitenwende“ jetzt auch im Osten neue „Einsatzfelder“ bieten, und manche hoffen vielleicht sogar auf eine Revanche für Stalingrad. Der ohnehin seit Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaute Repressions- und Überwachungsapparat wird seine Macht ebenfalls weiter ausbauen können. Somit leitet die „Zeitenwende“ eine neue Ära ein, die gekennzeichnet sein wird von einem massiven Ausbau der Macht des Militärs sowie des Repressions- und Überwachungsapparats. Dass dabei die SPD und Grünen eine Führungsrolle übernehmen, sollte nach den Erfahrungen der Vergangenheit niemanden überraschen.
Es war einmal…
SPD und Grünen wird bei der Fortsetzung ihrer während der Balkan-Kriege begonnen Politik diesmal von der FDP assistiert. Das ist ein ideales Trio, um militärische Interventionen und verstärkte Aufrüstung als eine Notwendigkeit bei der „Verteidigung der Freiheit“ zu verkaufen. Die „Zeitenwende“ des Olaf Scholz liegt ganz in der Kontinuität der Politik, die im Sommer 1914 begann: damals hatte die SPD zuerst große Friedensdemonstrationen gegen den sich abzeichnenden 1. Deutschen Weltkrieg organisiert, aber dann stellte sie sich hinter die kaiserliche Regierung. Nachdem der erste deutsche „Griff nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer) scheiterte, wurde 1939 ein zweiter Versuch unternommen, der zu den schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte führte. Einen dritten Versuch wird es nicht geben, aber mit der „Globalisierung“ und der Hegemonie der USA erübrigt sich die Frage ohnehin.
Bei den Grünen, die in den 80er Jahren als linke Alternative und als Friedenspartei auf die politische Bühne traten, hatte der Sündenfall ein kleineres Format, aber genaugenommen leitete bereits die Intervention Deutschlands in die Balkankriege die „Zeitenwende“ deutscher Politik ein. Um zu erkennen, wie weit sich die Grünen von ihrer ursprünglichen Politik entfernt hatten, genügt ein Blick in ihr Wahlprogramm von 1987. Dort steht im Kapitel „Auflösung der Militärblöcke“: „Wir müssen raus aus der NATO, weil es mit der NATO keinen Frieden geben kann und die Schwächung, Desintegration und schließlich Aufhebung dieses Bündnisses unabdingbar ist, um Frieden zu schaffen. Die NATO ist nicht reformierbar.“
Bei genauer Betrachtung der Entwicklung seit den 80er Jahren wird deutlich, dass die Linke sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern nie eine konsequente Politik gegen die zahlreichen imperialistischen Aggressionen verfolgt hat. Nichts verdeutlicht den Niedergang der Linken so sehr, wie die Abkehr von Internationalismus, Antiimperialismus und internationaler Solidarität, die Ende der 60er Jahre Kernelemente linker Politik bildeten. Die 1968 begonnene Phase eines radikal-linken Aufbruchs endete nach etwa zehn Jahren.
NATO-Doppelmoral und die Türkei
Die seit der russischen Invasion der Ukraine stattfindende Debatte innerhalb linker Kreise dreht sich um Fragen wie „Sicherheitsinteressen“, „hegemoniale und imperialistische Interessen“, „imperialistische Pläne“, „Verschärfung des Konkurrenzkampfes zwischen verfeindeten Lagern“, Völkerrecht und ähnliches. Wie üblich werden Unmengen an Texten mit „Analysen“ produziert, aber konkrete Aktivitäten gegen die massive Kriegstreiberei sind nicht sichtbar. Die Debatte ist gekennzeichnet durch ein oft widersprüchliches Rumgeeiere, bei der letztendlich keine Position deutlich wird. Gefordert werden „Deeskalation“, „Dialog“ und „Verhandlungen“, nur so könnten Konflikte friedlich und einvernehmlich gelöst werden. Wer würde da widersprechen?
Es wird deutlich, dass aus der NATO-Intervention im Balkan-Krieg in den 90er Jahren und anderen Teilen der Welt keine Lehren und Konsequenzen gezogen wurden. Gegen die nach Zusammenbruch der Sowjetunion zunehmende Kriegs- und Expansionspolitik der NATO wurde kein nennenswerter Widerstand geleistet. Besonders auffallend ist die Gleichgültigkeit hinsichtlich der aggressiven Politik eines NATO-Staates, dem eine besondere Rolle zukommt: die Türkei. Als 1974 ein faschistischer Militärputsch auf Zypern stattfand, nutzte Ankara dies als Vorwand, um den Nordteil der Insel zu besetzen und die 1983 proklamierte „Türkische Republik Nordzypern“ anzuerkennen. Die Zyprioten hatten 1960 ihre Unabhängigkeit von Großbritannien erkämpft, aber 14 Jahre später wurde im Nordteil ein Marionettenstaat der Türkei geschaffen, während im Süden die Briten eine große Militärbasis besitzen. Seit 2004 ist das Land Mitglied der EU, aber „der Westen“ kann oder will die gewaltsame, völkerrechtswidrige Teilung der Insel nicht beenden; es gibt keinerlei Druck auf Ankara, seine Truppen wieder abzuziehen.
Während die NATO die völkerrechtswidrige Besetzung Nordzyperns durch die Türkei seit fast 50 Jahren toleriert, geht sie auf einen harten Konfrontationskurs zu Moskau. Es gelten offensichtlich sehr unterschiedliche Maßstäbe: der russischen Besetzung der Krim und die Anerkennung der Unabhängigkeit der „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk beantwortete „der Westen“ mit Sanktionen, aber die Türkei hat derlei „Strafen“ nicht zu befürchten.
Nicht nur Zypern ist ein Opfer des NATO-Staats mit der Lizenz, gewaltsam und völkerrechtswidrig das Territorium von Nachbarstaaten zu besetzen, Bevölkerungsgruppen zu vertreiben, zu terrorisieren und nach eigener Interessenlage neue Staaten zu erschaffen. Über die Verbrechen der türkischen Besatzungstruppen an der kurdischen Bevölkerung im Norden der Republik Irak schweigt die „Weltgemeinschaft“; die kurdische Autonomieverwaltung und die Regierung in Bagdad sind entweder machtlos oder nicht gewillt, der türkischen Okkupation Widerstand zu leisten. Wegen der Verbrechen gegen Kurden gibt es keine nennenswerten Proteste in Deutschland. Der Bundestag hat zwar den Völkermord an den Armeniern anerkannt und die Mitschuld der kaiserlichen Regierung eingestanden, aber an der deutschen Türkei-Politik hat sich nichts geändert.
Der seit Jahren andauernde Krieg der Türkei gegen die selbstverwalteten Gebiete in Nordsyrien ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die USA und andere NATO-Staaten die türkische Expansions- und Okkupationspolitik tolerieren. Dabei hat gerade die dortige Bevölkerung im Kampf gegen den IS enorme Opfer gebracht, Tausende von Kämpferinnen und Kämpfer der YPG sind im Kampf gegen den von der Türkei unterstützten IS gefallen. Die Besetzung Afrins und weiteren Teilen der selbstverwalteten Gebiete im Norden Syriens wird von der NATO zumindest toleriert. Ankaras Aggression wird auch von Moskau hingenommen, obwohl damit Staatsterritorium seines syrischen Verbündeten besetzt wurde. Die Linken, die heute hitzig über den Krieg in der Ukraine debattieren, haben über die in Afrin und Rojava/Nordsyrien verübten Verbrechen geschwiegen. Sie schweigen auch zu der Kriminalisierung von Kurden in Deutschland, die den Befreiungskampf in Kurdistan unterstützen.
Widerstand gegen Aufrüstung und Krieg
Die innerhalb der Linken stattfindende Debatte über den Ukraine-Krieg sollte angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte umfassender sein und die gesamten Versäumnisse und Fehler konsequent aufarbeiten. Es bedarf keiner tiefschürfenden Debatten darüber, was die Linke angesichts des Krieges in der Ukraine zu tun hat. Aufrüstung und Krieg sind Folge einer bestimmten Politik zur Durchsetzung von bestimmten Interessen. Im Kampf gegen Aufrüstung und Krieg müssen sich der Protest und Widerstand zuerst gegen die eigene Regierung und das mächtigste politisch-militärische Bündnis der Geschichte richten, dessen Mitglied Deutschland ist. Alles andere ist zweitrangig und lenkt nur von dieser vorrangigen Aufgabe ab.
Wenn der Vorstandschef von Axel Springer offen eine militärische Intervention der NATO in der Ukraine fordert, dann sollte dies ein deutliches Alarmzeichen sein. Die „Zeitenwende“ wird von manchen bereits so interpretiert, dass es an der Zeit sei, „den Russen“ diesmal endgültig zu besiegen und den im 2. Deutschen Weltkrieg gescheiterten Eroberungsplan zu verwirklichen. Der „Raum im Osten“ mit seinen großen Vorräten an Öl, Gas und anderen Bodenschätzen ist für sie ein unwiderstehliches Eldorado. Die russische Invasion der Ukraine bietet in ihren Augen eine willkommene Gelegenheit, um die Expansionspolitik „völkerrechtlich“ zu legitimieren.
In Washington und London werden bereits Szenarien entworfen, die eine militärische Intervention der NATO legitimieren könnten. Angesichts dieser Entwicklung kann die Linke nicht weiterhin endlose Debatten führen, sie muss über Parteigrenzen hinweg an die antimilitaristische, antiimperialistische Tradition anknüpfen und den Widerstand gegen die Politik der eigenen Regierung organisieren. Wenn sie gegen die Kriegstreiberei, die massive Aufrüstung und den zunehmenden Nationalismus im eigenen Land keinen Widerstand leistet, dann hätte sie erneut kapituliert.
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/olaf-scholz-wer-fuehrung-bestellt-der-kriegt-sie-auch/3795952.html
[2] https://www.focus.de/politik/deutschland/insa-sonntagstrend-bundeskanzler-scholz-so-beliebt-wie-noch-nie-spd-schliesst-wieder-zur-union-auf_id_63701211.html