Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur das Ergebnis von Spannungen zwischen zwei Ländern, sondern auch die jüngste Phase im Kampf um die Vorherrschaft zwischen der NATO und Russland. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) lehnt die militärische Intervention Russlands entschieden ab und fordert die russische Regierung auf, alle militärischen Operationen sofort zu beenden. Hişyar Özsoy weist als außenpolitischer Sprecher der HDP im ANF-Interview darauf hin, dass die NATO auf Expansionismus in Osteuropa setzt und Putin das als Vorwand für eine Kriegserklärung benutzt. Für die Türkei ist dieser Krieg ein Dilemma.
In der Ukraine herrscht Krieg. Wie ist es Ihrer Meinung nach dazu gekommen?
Dieser Krieg ist nicht nur eine Angelegenheit zwischen der Ukraine und Russland. Es handelt sich lediglich um einen Ausdruck des seit dreißig Jahren andauernden Konflikts zwischen Russland und der NATO in Osteuropa. Dahinter steht das ständige Bestreben der NATO nach Osterweiterung, das seit den 1990er Jahren trotz gegenteiliger Versprechungen anhält.
Die NATO ist ein Pakt, der gegen die Sowjetunion geschlossen wurde. Seit der Auflösung der Sowjetunion hat die NATO jedoch elf osteuropäische Länder aufgenommen. Letztendlich hat die NATO immer eine expansionistische Politik verfolgt, auch als nach dem Zusammenbruch der Sowjets alle von einem Wandel ausgingen. Folgendes sollte betont werden: Der Westen, also Länder wie die USA, England und Frankreich, hat die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland gefordert und Russland im Gegenzug Versprechungen gemacht. Es hieß, dass keine Osterweiterung der NATO stattfinden wird. Das bringt Putin ständig zur Sprache. Er sagt, dass zwar keine schriftliche Zusage erfolgt ist, aber sogar Clinton dieses Versprechen gegeben hat. Die NATO hat Länder wie Polen, Bulgarien, Rumänien, Tschechische Republik, Litauen und Lettland aufgenommen. Busch hat bereits im Jahr 2000 den Befehl gegeben, dass die Ukraine und Georgien der NATO beitreten sollen.
Insofern besteht seit dreißig Jahren ein Konflikt im Zusammenhang mit der NATO-Osterweiterung und der Ablehnung Russlands. Im Zentrum dieses Konflikts steht die Ukraine als größtes Land in Osteuropa. 2014 hat in der Ukraine ein von den USA unterstützter Putsch stattgefunden, die prorussische Regierung wurde gestürzt. Die neue Regierung will sich wirtschaftlich an die EU binden. Im Gegenzug wurde die Krim annektiert und besetzt. In der Region Donbass wurde die Regierung übernommen. 2014 war ein Standbein des Konflikts, der jetzt acht Jahre später zu einem offenen Krieg geführt hat.
Was ist die Meinung der HDP zu dieser Situation?
Als HDP sind wir der Meinung, dass dieser Hintergrund keine Rechtfertigung für Russland ist. Zwischen der NATO und Russland gibt es letztendlich Tausende Konflikte, die über Verhandlungen gelöst oder bestritten werden müssen. Im aktuellen Szenario bombardiert Russland alles einschließlich ziviler Wohngebiete. Wer die Politik Russlands und der NATO in Osteuropa verfolgt hat, wusste im Vorfeld, dass dieser Konflikt in irgendeiner Form eskalieren wird. Sowohl Putin als auch Selenskyj haben mehrfach eine Rückkehr zu Verhandlungen angedeutet. Wir werden in den kommenden Tagen sehen, inwieweit das möglich ist.
Selbst wenn es zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch kommen sollte – wenn der grundlegende Konflikt nicht gelöst wird, werden sich der Expansionismus der USA und die militärischen Interventionen Russlands morgen in Georgien, der Ukraine oder einem anderen Land fortsetzen. Russland sagt, dass die NATO-Osterweiterung eine Gefahr darstellt und nicht zugelassen werden kann. Sollte Russland sich zum jetzigen Zeitpunkt auf Verhandlungen einlassen, wird es auf der schriftlichen Zusage bestehen, dass die Ukraine der NATO nicht beitritt. Die Angelegenheit wird sich jedoch nicht von heute auf morgen lösen lassen. Wir befürchten, dass die Ukraine und Osteuropa in diesem Jahrhundert eines der Hauptkonfliktfelder zwischen der NATO und Russland bleiben werden, bis die Russen sich durchgesetzt haben.
Putin sagt beharrlich, dass es sich nicht um eine Besatzung handelt, sondern um eine spezielle Operation, aber er will auch erneut eine prorussische Regierung in der Ukraine. Er will etwas durchsetzen, was die Ukraine von Europa trennt. Wie gesagt, es handelt sich um einen dreißigjährigen ungelösten Konflikt. Solange es keine Lösung gibt, führt diese Situation zu zunehmender Instabilität in Osteuropa. Als HDP treten wir für einen Rückzug der expansionistischen Staaten aus allen Konfliktgebieten ein. Das gilt ebenso für Syrien, Libyen, das östliche Mittelmeer und den Kaukasus. Wir wollen, dass die dortigen Völker in Frieden zusammenleben können. Das ist es, was wir als dritten Weg bezeichnen. Anstelle der Interessen von Russland, der NATO oder anderer Staaten geht es um die Interessen der dortigen Bevölkerung.
Eines der grundlegenden Ziele der USA ist es, dass Russland als ständige Gefahr für Europa wahrgenommen wird. Darüber hinaus soll Russland zurückgedrängt werden, um sich China als dem eigentlichen Ziel zu widmen. Im Vorfeld des aktuellen Krieges haben die USA und England ständig erklärt, dass dieser Krieg ausbrechen wird und sie dagegen intervenieren werden. Die Ukraine hat jedoch bei Kriegsbeginn in gewisser Form zum Ausdruck gebracht, dass sie im Stich gelassen wurde. Aus dieser Perspektive betrachtet, was meinen Sie, wie sich die Angelegenheit auf die Beziehung zwischen den USA und der EU auswirken wird?
Die ukrainische Führung sagt, dass sie allein gelassen wird, aber das war ohnehin klar. Weder die NATO noch die EU-Länder und die USA sind in der Position, sich in diesem Krieg gegen die Atommacht Russland zu stellen. Selenskyj fragt, warum die Ukraine im Stich gelassen wird, aber sie wurde bereits vor acht Jahren allein gelassen. Was wurde denn unternommen, als die Krim annektiert wurde? Es gab einige Sanktionen, aber letztendlich hat Putin gewonnen. Bei Kriegsausbruch war klar, dass der Westen oder die NATO verschiedene Sanktionen verhängen wird. Insofern war das nicht überraschend. Das Ziel der USA ist neben Russland auch China und China und Russland haben in gewissem Ausmaß einen Block gebildet.
Man sollte sich daran erinnern, dass die USA in der Trump-Ära innerhalb der NATO insbesondere mit Frankreich ernste Auseinandersetzungen geführt haben. Trump startete mehrfach Initiativen, ohne Europas Meinung einzuholen. Die EU-Länder diskutierten sogar über die Notwendigkeit einer eigenen militärischen Kraft, weil sie davon ausgingen, dass die USA und England ihre Interessen innerhalb der NATO nicht berücksichtigen. In der Amtszeit von Biden und insbesondere bei dem jetzigen russischen Angriff sehen wir, dass die Widersprüche innerhalb der NATO beiseite gelegt wurden und alle versuchen, das Bündnis zu stärken. Da Russland als Gefahr aufgefasst wird und jetzt sogar nicht vor einer militärischen Machtdemonstration zurückscheut, werden auch andere Länder in Europa, die wie zum Beispiel Schweden nicht der NATO angehören, einen Beitritt anstreben. Für sie gibt es keinen anderen Rettungsschirm.
Das zeigt doch, dass die USA ihre Macht vergrößern und ihr Ziel erreicht haben, oder?
Ja, mit Sicherheit. Die EU hat sich in ihrer Beziehung zu Russland darum bemüht, möglichst nicht als US-Ersatz zu fungieren. In der Trump-Zeit wurde versucht, alle möglichen Sanktionen gegen China zu verhängen, aber Deutschland hat sich dagegen ausgesprochen. Europa hat eigene Beziehungen zu China und dem Fernen Osten und will nicht blind den USA folgen. Die Interessen Europas und der USA sind teilweise gegensätzlich, innerhalb und außerhalb der NATO. Die russische Bedrohung in Osteuropa wird diese Länder in eine von England und den USA dominierte NATO treiben.
Erdogan hat drei wichtige Stellungnahmen zur Ukraine abgegeben. In der ersten ging es um eine Ablehnung der russischen Besatzung anstatt einer Verurteilung, in der zweiten sagte er, dass er weder die Ukraine noch Russland verlieren will. Zuletzt forderte er härtere Sanktionen der NATO gegen Russland. Diese drei Stellungnahmen unterschieden sich im Ton voneinander. Die Türkei ist NATO-Mitglied, welchen Einfluss wird die aktuelle Situation auf das Verhältnis zwischen der Türkei und Russland haben?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Die Türkei ist ein NATO-Staat und zwar nicht irgendeiner, sondern der mit der zweitgrößten NATO-Armee. Sie ist außerdem das größte NATO-Land am Schwarzen Meer, das wiederum ein grundlegender Konfliktpunkt zwischen der Ukraine und Russland ist. Die Türkei hat politisch zwischen Russland und der Ukraine balanciert. Sie baut den Handel mit der Ukraine aus und verkauft Waffen. Das gleiche gilt für Russland, die Türkei hat das Luftabwehrsystem S-400 gekauft und ähnliches.
Für diese Politik der Türkei bot der kontrollierte Konflikt in Osteuropa und der Ukraine eine Grundlage. Weil dieser Konflikt zu einem offenen Krieg eskaliert ist, wird die Türkei zur Positionierung gezwungen werden. Wenn der Krieg länger dauern sollte, wird die Türkei nicht mehr in der Lage sein, beide Seite hinzuhalten, denn sie ist Mitglied der NATO. Insofern entspricht dieser Krieg nicht den Interessen der Türkei. Wenn der Krieg weitergeht, wird der Westen Druck auf die Türkei ausüben, damit sie sich auf die Seite der Ukraine stellt. Auch die Nutzung des Schwarzen Meeres wird zur Debatte stehen. Die Türkei wird also unweigerlich in den Strudel dieses Krieges hineingezogen werden.
Aufgrund ihrer NATO-Mitgliedschaft hat die Türkei nicht die Möglichkeit, sich auf Russlands Seite zu stellen. Auch wenn sie ihre Gleichgewichtspolitik beibehalten will, wird der Westen sie auf seine Seite ziehen. In einer solchen Situation hat Russland viele Möglichkeiten, der Türkei zu schaden, so etwa in der Bergkarabach-Frage im Kaukasus und in Idlib in Syrien. Idlib und Rojava sind in diesem Fall die stärksten Trümpfe, die Russland in der Hand hat. Darüber hinaus hat Russland viele weitere Druckmittel gegen die Türkei, vom Handel bis zum Tourismus, von der Landschaft bis zur Energieversorgung.
Als es 2015 wegen des abgeschossenen Flugzeugs zur Krise zwischen beiden Ländern kam, gab es ein russisches Embargo gegen die Landwirtschaft und den Tourismus in der Türkei. Drei oder vier Monate später war Erdogan gezwungen, sich schriftlich zu entschuldigen. Wie gesagt, in diesem offenen Krieg kann die Türkei nicht länger auf ihre Gleichgewichtspolitik setzen. Diese Schere schließt sich zunehmend. Eine Zeitlang hat die Türkei sich als Vermittlerin angeboten. In einer derartig wichtigen Angelegenheit sieht jedoch niemand die Türkei als Ansprechpartnerin, wenn sogar Macron in dieser Hinsicht keinen Erfolg verbuchen kann.