Auf der türkischen Seite der EU-Grenze zu Griechenland sind die Leichen erfrorener Migranten entdeckt worden. Am Mittwoch hatten türkische Behörden im Grenzbezirk Ipsala zwölf Schutzsuchende entdeckt. Elf von ihnen waren bereits an Unterkühlung gestorben, eine weitere Person verstarb im Krankenhaus. Gestern stieg die Zahl der an der türkisch-griechischen EU-Außengrenze erfrorenen Schutzsuchenden auf 19 Personen, nachdem sieben weitere Leichen entdeckt wurden. Der türkische Innenminister nutzte den Tod der Schutzsuchenden, um gegen Griechenland Stimmung zu machen. Ob es zutrifft, dass die Schutzsuchenden Opfer eines illegalen Pushbacks der griechischen Behörden waren, bleibt unklar, es ist aber wahrscheinlich. Denn ähnlich wie die türkischen Behörden an der Ostgrenze zu Ostkurdistan beziehungsweise Iran führt Griechenland unter EU-Regie systematische, völkerrechtswidrige Pushbacks gegen Schutzsuchende an den Grenzen durch, bei denen es zu schwersten Übergriffen und Folter kommt.
„Schutzsuchende werden zum Grenzübertritt gezwungen“
Die Ko-Sprecher:innen der Menschenrechtskommission der HDP Gülsüm Ağaoğlu und Veli Saçılık warnten, die Türkei versuche Schutzsuchende als Druckmittel gegen die EU zum Grenzübertritt zu nötigen. In einer Erklärung heißt es: „Schutzsuchende in den Abschiebelagern werden gezwungen, die griechische Grenze zu überqueren. So soll Druck auf die EU aufgebaut werden. Schutzsuchende, die von der Türkei an der Grenze abgesetzt werden, werden von den griechischen Strafverfolgungsbehörden gefoltert und an der türkischen Grenze auch bei kaltem Wetter zurückgewiesen.
„Das Recht auf Leben wurde verletzt“
Am 1. Februar erfroren 19 von 22 Migrant:innen, die von den griechischen Behörden festgenommen und an der türkischen Grenze abgesetzt wurden. Es wurden Bilder der Leichen veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, dass diese unter den strengen Winterbedingungen nackt waren. Das Recht auf Leben, Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte, wurde an der Grenze der beiden Staaten erneut verletzt.
„Wöchentlich werden zwischen 200 und 300 Menschen an der Grenze ausgesetzt“
Aus den Berichten Dutzender Zeug:innen wissen wir, dass seit fast einem Jahr zwischen 200 und 300 Flüchtlinge wöchentlich von türkischen Behörden an der griechischen Grenze ausgesetzt und gezwungen wurden, die Grenze zu überqueren. Viele von ihnen werden von den griechischen Behörden gefoltert und misshandelt und über die türkische Grenze zurückgewiesen. Die zuständigen Institutionen der Türkei und Griechenlands müssen diese unmenschliche Praxis beenden, die aus internationalen Übereinkommen resultierenden Verpflichtungen erfüllen und die Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben, achten. Wir bekräftigen auch, dass die Europäische Union und die Vereinten Nationen eine politische Verantwortung für den Tod von Schutzsuchenden tragen, weil sie schweigen und diese Praktiken fördern.
„Das Sterben beenden“
Die Kriegspolitik der AKP/MHP vertreibt jeden Tag Menschen und verursacht Massenflucht. Die sozialen Spannungen nehmen von Tag zu Tag zu, da die Völker in der Türkei die Kosten des Krieges zu tragen haben. Die Menschen in der Türkei verarmen, Migrant:innen werden gezwungen, unter Bedingungen der Sklaverei ohne jeden Status zu leben, und sie werden sogar zum Sterben ausgesetzt. Die Bombardierung des unter dem Schutz der UNO stehenden Flüchtlingslagers Mexmûr ist das Produkt derselben Mentalität. Wir fordern alle relevanten Länder und internationale Institutionen, insbesondere die Türkei und Griechenland auf, ihre Politik, die zu diesem Sterben führt, zu beenden und die Todesfälle an der Grenze nach Griechenland zu stoppen.“
Folterklage gegen Griechenland
Infomigrants berichtet über einen Folterfall an Schutzsuchenden in Griechenland. „Parvin”, eine junge Frau aus dem Iran, klagt Folter an Migrant:innen in Griechenland an. Sie hatte 2017 den Iran verlassen und war in die Türkei geflohen. Von dort aus versuchte sie 2020, nach Griechenland zu gelangen. Sie berichtet, dass sie dabei sechsmal von griechischen Behörden illegal zurückgewiesen wurde. Sie erzählt gegenüber dem Nachrichtenmagazin Spiegel: „Ich versuchte, den Fluss Evros zu überqueren und das Meer zu überqueren, obwohl ich nicht schwimmen konnte. Griechische Beamte nahmen mich fest und steckten mich in eine schmutzige Zelle, in Frachtcontainer, in denen wir ohne Luft, ohne Essen und ohne Toilette eingepfercht waren. Sie schlugen mich, Kinder und auch eine schwangere Frau und zerstörten unsere Mobiltelefone. Sie nahmen uns Essen und Kleidung weg. Ich wurde in Handschellen gelegt, geschlagen, beschossen, mit Tränengas misshandelt, gefoltert und fast getötet.“
Während ihrer sechs Versuche, in der EU Asyl zu beantragen, berichtet sie auch gegenüber Forensic Architecture über Inhaftierung, Gewalt und Massenausweisungen sowie von sogenannten Drift-Backs, bei denen Schlauchboote von der griechischen Küstenwache abgedrängt und ihrem Schicksal überlassen werden. Außerdem erzählt sie von Inhaftierungen in türkischen Quarantänelagern.
Schwere Folter durch griechische Polizisten
Bei einer Festnahme in Griechenland sei es zu besonders schweren Übergriffen gekommen. Sie und andere Migrant:innen seien in einer Zelle festgehalten worden. Als sie von Wachen herausgeholt werden sollte, befürchtete sie, nackt durchsucht zu werden. Also fing sie an, auf Farsi zu schreien, um die anderen zu warnen. Daraufhin schlug ihr ein Polizist mit einem Holzknüppel auf die Nase. Zu diesem Zeitpunkt, wurde sie von den anderen getrennt und in einen isolierten Raum gebracht. Große Holzknüppel lagen auf dem Boden, der Raum war dunkel und nur ein wenig Licht kam durch die offene Tür zum Flur, berichtet sie. Parvin sagt, sie habe die Beamten beleidigt und versucht zu fliehen. Anschließen schildert sie folgendes: „Zwei Männer drückten mich auf den Boden. Ich erhielt Schläge auf meine Beine und meinen Rücken, vielleicht fünf oder zehn Schläge. Ich erinnere mich, dass ich meine Augen geschlossen hatte und aus tiefster Seele schrie. Meine Nase blutete noch von den Schlägen, die ich draußen erhalten hatte, und ich hatte Angst.“ Parvin sagt, sie wurde dann auf einen Stuhl in der Mitte des Raumes gesetzt und mit Handschellen gefesselt. Ihr wurde kein Wasser angeboten und trotz mehrfacher Bitte, die Toilette benutzen zu dürfen, wurde ihr das nicht erlaubt. Stunden später wurde sie in einen anderen Raum gebracht. Dann wurde ihr befohlen, sich auf einen anderen Stuhl zu setzen, bis sie zu weinen aufhöre.
Danach wurde sie „mit Handschellen gefesselt und immer noch blutend“ zu den anderen Gefangenen gebracht. Am nächsten Morgen wurde die Gruppe in einem Lastwagen zum Evros gefahren. Die Männer „trugen militärische Kleidung und Sturmhauben“, schreibt der Spiegel. Einer der Männer packte sie am Hals und drohte, sie zu töten, wenn sie jemals zurückkäme. Dann wurde die Gruppe in einem Boot auf die türkische Seite des Flusses gebracht.