Reporter ohne Grenzen (RSF) setzt sich auch gegenüber der neuen Bundesregierung intensiv für neue Aufnahme- und Schutzprogramme für afghanische Medienschaffende ein. Ein knappes halbes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ist die akute Lebensgefahr für Journalistinnen und Journalisten zwar aus den Schlagzeilen verschwunden. Für die Betroffenen bleibt die Situation jedoch unerträglich. Noch immer sitzen viele von ihnen trotz konkreter Bedrohung in der Schwebe und hoffen auf Schutz.
RSF hat zentrale Fragen und Antworten für gefährdete Journalistinnen und Reporter, für Medien und die Politik zusammengestellt. Eine der wichtigsten Forderungen an die Bundesregierung: Sie muss die sichere Ausreise von Medienschaffenden mit Aufnahmezusagen logistisch vorbereiten, durchführen und die Kosten dafür tragen. Zudem müssen unbürokratische humanitäre Visa auch Menschen offenstehen, die sich bisher noch nicht beim Auswärtigen Amt registrieren lassen konnten.
„Wir bekommen noch immer täglich Hilferufe von afghanischen Journalistinnen und Reportern. Sie brauchen eine Zukunftsperspektive“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wir hoffen, dass sich die neue Bundesregierung stärker einbringt und diesen zum Teil mit dem Tod bedrohten Menschen ermöglicht, sich aus dem Land zu retten. Dafür braucht es zügig neue, unbürokratische Aufnahmeprogramme. Dieser Prozess darf nicht auf zivilgesellschaftliche Organisationen wie Reporter ohne Grenzen abgewälzt werden.“
RSF wirbt für neue Aufnahmeprogramme
Schon seit Ende August haben gefährdete Journalistinnen und Journalisten keine Möglichkeit mehr, sich für eine Evakuierung registrieren zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt hat die damalige Bundesregierung die sogenannte Menschenrechtsliste „geschlossen“. RSF wirbt seit Monaten für neue humanitäre Aufnahmeprogramme, die Entscheidung darüber liegt allerdings bei der Regierung. Weil nur diese Visa ausstellen kann, kann RSF nicht eigenständig evakuieren. Die Organisation arbeitet jedoch mit zivilgesellschaftlichen Partnern, dem Auswärtigen Amt sowie Bundes- und Landesbehörden zusammen, berät, unterstützt und vermittelt. Trotz personeller Aufstockung arbeitet das Nothilfe-Team von Reporter ohne Grenzen am Rande der möglichen Kapazitäten: Seit August sind weit über 15.000 Evakuierungsanfragen eingegangen.
Bisher haben 147 hoch gefährdete afghanische Medienschaffende und ihre Familien auf Vermittlung von RSF konkrete Aufnahmezusagen durch die Bundesregierung bekommen. Nahezu zwei Drittel dieser insgesamt etwa 500 Personen konnten mit Unterstützung von Reporter ohne Grenzen mit ihren engsten Familienangehörigen Afghanistan verlassen und nach Deutschland einreisen. Dort werden sie von RSF beraten und begleitet. Weitere Journalistinnen und Journalisten und ihre Angehörigen befinden sich in Transitländern, vor allem in Pakistan und im Iran, aber auch in Katar, der Türkei und Albanien.
Bis Ende 2021 hat Reporter ohne Grenzen etwa 150.000 Euro für die Nothilfearbeit für afghanische Medienschaffende ausgegeben. Den weitaus größten Posten macht mit etwa 91.000 Euro die Übernahme von Flugkosten aus, weitere etwa 40.000 Euro sind Personalkosten. Etwa zwei Drittel der Gesamtausgaben konnten durch Spenden gegenfinanziert werden.
Medienvielfalt hat sich drastisch verschlechtert
Wie dramatisch die Lage für afghanische Journalistinnen und Journalisten ist, zeigt eine Untersuchung von Reporter ohne Grenzen (RSF) und der lokalen Partnerorganisation Afghan Independent Journalists Association (AIJA) vom Dezember 2021. Seit dem 15. August, dem Fall von Kabul, haben 6400 Medienschaffende ihre Arbeit verloren. Am stärksten betroffen sind Frauen: Vier von fünf Journalistinnen arbeiten nicht mehr in ihrem Beruf. In der Region Kabul waren vor dem Sturz fast 1200 Frauen im Journalismus tätig – heute sind es nur noch 320. Das ist Teil der Taliban-Strategie: Neben konkreten Regeln zu Art und Inhalt der Berichterstattung ist es Medienunternehmen nun verboten, Journalistinnen einstellen.
In den vergangenen 20 Jahren war in Afghanistan eine lebendige und durchaus plurale Medienlandschaft mit mehreren hundert Fernsehstationen, Radiosendern und Printmedien entstanden. Noch vor wenigen Monaten gab es in den meisten afghanischen Provinzen mindestens zehn private Medien – inzwischen gibt es Regionen, in denen fast alle Lokalmedien schließen mussten. Von den 543 Medien, die zu Beginn des Sommers 2021 in Afghanistan registriert waren, existierten Ende November nur noch 312. Damit sind innerhalb von drei Monaten 43 Prozent der afghanischen Medien verschwunden.
Reporter ohne Grenzen (RSF) / 02.02.2022
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