Die EU-Kommission hat Donnerstag das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihenkaufprogramm der EZB eingestellt. Zuvor hatte Deutschland förmlich erklärt, dass es den Vorrang des EU-Rechts anerkennt und eine Wiederholung einer Ultra-vires–Feststellung künftig aktiv vermeiden wird. Im Rahmen ihres monatlichen Pakets mit Beschlüssen zu Vertragsverletzungsverfahren hat die Kommission Deutschland außerdem in zwei Fällen vor dem EuGH verklagt: wegen des unzureichenden Schutzes von Natura-2000-Gebieten und wegen Verstoßes gegen die Regeln zur Sicherheit und Interoperabilität des regionalen Eisenbahnverkehrs. Weitere Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland betreffen die Verhältnismäßigkeit neuer Berufsreglementierungen, die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und denZugang zum MwSt-Informationsaustauschsystem.
Die Europäische Kommission leitet regelmäßig rechtliche Schritte gegen Mitgliedstaaten ein, die ihren Verpflichtungen aus dem EU-Recht nicht nachkommen. Mit diesen Verfahren, die verschiedene Sektoren und EU-Politikfelder betreffen, soll eine korrekte und vollständige Anwendung des EU-Rechts im Interesse der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen gewährleistet werden.
Übersicht über die Verfahren gegen Deutschland
EU-Kommission stellt Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein: EU-Recht hat Vorrang
Die Kommission hat heute beschlossen, das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 im Zusammenhang mit dem Programm der Europäischen Zentralbank zum Ankauf von Vermögenswerten des öffentlichen Sektors („PSPP“) einzustellen.
Die Kommission hält es aus drei Gründen für angebracht, das Vertragsverletzungsverfahren einzustellen:
- Erstens hat Deutschland in seiner Antwort auf das Aufforderungsschreiben sehr klare Zusagen gemacht. Insbesondere hat Deutschland förmlich erklärt, dass es die Grundsätze der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie die in Artikel 2 EUV verankerten Werte, insbesondere die Rechtsstaatlichkeit, bekräftigt und anerkennt.
- Zweitens erkennt Deutschland ausdrücklich die Autorität des Gerichtshofs der Europäischen Union an, dessen Entscheidungen rechtskräftig und bindend sind. Das Land ist ferner der Ansicht, dass die Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane nicht von der Prüfung von Verfassungsbeschwerden vor deutschen Gerichten abhängig gemacht, sondern nur vom Gerichtshof der Europäischen Union überprüft werden kann.
- Drittens verpflichtet sich die deutsche Regierung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ihre in den Verträgen verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires–Feststellung aktiv zu vermeiden.
Klagen vor dem Gerichtshof der Europäischen Union gegen Deutschland
Die Kommission hat heute beschlossen, Deutschland vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu verklagen, weil es die in den Richtlinien 2004/49/EG und 2008/57/EG festgelegten Anforderungen an die Sicherheit und Interoperabilität im Eisenbahnverkehr nicht auf seine Netze des Regionalverkehrs anwendet. Nach Auffassung der Kommission stellt dies ein Hindernis für die Vollendung des einheitlichen europäischen Eisenbahnraums dar, da der Besitzstand der EU im Bereich Eisenbahnsicherheit und Interoperabilität auf etwa 16 Prozent des gesamten deutschen Schienennetzes nicht angewendet wird. Sie verklagt daher Deutschland wegen beider Vertragsverletzungen vor dem Gerichtshof.
Die Kommission hat außerdem beschlossen, Deutschland vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu verklagen, da es blütenreiche Wiesen in Natura-2000-Gebieten nicht ausreichend schützt und damit den Anforderungen der Habitat-Richtlinie (Richtlinie 92/43/EWG) nicht nachkommt. Die Richtlinie ist eines der wichtigsten Instrumente der EU zum Schutz der biologischen Vielfalt.
Neue Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland
Bewertung der Verhältnismäßigkeit neuer Berufsreglementierungen
Die Kommission leitet heute rechtliche Schritte gegen Deutschland und 17 weitere Mitgliedstaaten ein, die die EU-Vorschriften zur Bewertung der Verhältnismäßigkeit neuer Berufsreglementierungen nicht ordnungsgemäß umgesetzt haben. Gemäß der Richtlinie über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen (2018) müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass die von ihnen eingeführten Anforderungen für Berufe notwendig und ausgewogen sind. Mit einer Reihe von in der Richtlinie vorgesehenen Kriterien soll vermieden werden, dass qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern der Zugang zu einem breiten Spektrum von Berufen oder deren Ausübung durch unnötig aufwendige nationale Vorschriften erschwert wird. Wenn die EU-Vorschriften über Verhältnismäßigkeitsprüfungen nicht ordnungsgemäß umgesetzt werden, könnte dies letztlich dazu führen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher durch überhöhte Preise benachteiligt werden, die Entwicklung innovativer Dienstleistungen untergraben wird oder gar wichtige Dienstleistungen nicht mehr in ausreichendem Maße zugänglich sind. Die Richtlinie ist ein wirksames Instrument, mit dem Berufsangehörigen der Zugang zu reglementierten Tätigkeiten und deren Ausübung EU-weit erleichtert wird. Die heute zur Gewährleistung ihrer ordnungsgemäßen Umsetzung ergriffenen Maßnahmen werden dazu beitragen, dass im Einklang mit den Zielen des EU-Aktionsplans zur Durchsetzung des EU-Binnenmarkts keine unverhältnismäßigen Hindernisse im Binnenmarkt entstehen oder diese beseitigt werden.
Die Kommission stellte nach eingehender Prüfung der nationalen Umsetzungsmaßnahmen fest, dass verschiedene Anforderungen von einigen Mitgliedstaaten nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurden und somit die Gefahr besteht, dass die Richtlinie in der Praxis nicht wirksam sein könnte. Sie hat daher beschlossen, Vertragsverletzungsverfahren gegen Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Kroatien, Litauen, die Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Schweden, die Tschechische Republik und Ungarn einzuleiten.
Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
Die Kommission hat Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, Luxemburg und Ungarn eingeleitet, weil diese Länder die EU-Vorschriften zur strafrechtlichen Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates) nicht vollständig oder korrekt in nationales Recht umgesetzt haben. Mit dem Rahmenbeschluss soll Sorge dafür getragen werden, dass schwere Formen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wie die Aufstachelung zu Gewalt oder Hass in der gesamten Europäischen Union mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden können. Derzeit ist in Deutschland und Ungarn eine bestimmte, im Rahmenbeschluss genannte Form von Hassreden nicht unter Strafe gestellt. So ist sind nach deutschen Recht das öffentliche Leugnen oder das gröbliche Verharmlosen von Völkerrechtsverbrechen nicht unter Strafe gestellt.
Die Mitgliedstaaten müssen binnen zwei Monaten die erforderlichen Maßnahmen treffen und die von der Kommission ermittelten Mängel beheben. Andernfalls kann die Kommission beschließen, den nächsten Schritt des Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten und mit Gründen versehene Stellungnahmen an die Länder zu richten. Die Kommission hat zu diesem Rechtsinstrument bereits Vertragsverletzungsverfahren gegen zehn Mitgliedstaaten eingeleitet und setzt die Prüfung der Umsetzung des Rahmenbeschlusses in anderen Mitgliedstaaten im Zuge ihrer Bemühungen um die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit fort. Weitere Informationen über die Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit finden Sie hier.
Verschärfung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland
Die EU-Kommission hat ebenfalls heute beschlossen, eine mit Gründen versehene Stellungnahme an Deutschland zu richten, weil es seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, anderen Mitgliedstaaten über das elektronische System MIAS (MwSt-Informationsaustauschsystem) einen automatischen Zugang zu den Informationen über Abruflagerregelungen zu gewähren. Die Anforderungen an das IT-System für Abrufverfahren zielen darauf ab, den Mitgliedstaaten einen einfacheren Austausch elektronischer Daten untereinander zu ermöglichen, um Betrug zu bekämpfen.
Die EU-Kommission stellt insgesamt acht Verfahren gegen Deutschland ein:
- Deutsche Mehrwertsteuerbefreiung für die Personenbeförderung in der 10-km-Zone
- Umsatzsteuerrückerstattung an nicht in Deutschland ansässige Steuerpflichtige
- Die Anwendung von Artikel 46 der Richtlinie 2007/46/EG über die Typgenehmigung und Artikel 13 der Verordnung 715/2007/EG über die Typgenehmigung für Emissionen gegen Deutschland
- Die Nichteinhaltung der Richtlinie 2012/27/EU zur Energieeffizienz durch Deutschland
- Nichtkonformität der deutschen regionalen Regelungen zur Einführung einer verpflichtenden Pflegekammermitgliedschaft mit den Artikeln 45 und 49 AEUV und Nichtmitteilung der neuen Regelungen
- Nichtmitteilung von Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2018/958 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor der Verabschiedung einer neuen Berufsordnung in Deutschland
- Nichtmitteilung der Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1151 in Bezug auf die Nutzung digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht
- Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den verbundenen Verfassungsbeschwerden 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15 und 2 BvR 980/16
EU-Kommission Vertretung Deutschland / 02.12.2021