EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat vor dem Europäischen Parlament ihre Sorge über das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zum Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht betont. „Die Europäische Kommission prüft dieses Urteil derzeit sorgfältig. Aber ich kann Ihnen bereits heute sagen: Ich bin zutiefst besorgt. Erstens stellt dieses Urteil die Grundlagen der Europäischen Union infrage. Es ist eine unmittelbare Herausforderung der Einheit der europäischen Rechtsordnung. Nur eine gemeinsame Rechtsordnung ermöglicht gleiche Rechte, Rechtssicherheit, gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und daraus resultierend gemeinsame Politik“, sagte von der Leyen. Sie unterstrich: „Die Kommission wird handeln.“
Die Optionen seien bekannt, so von der Leyen. Zum einen könne die Kommission ein neues Vertragsverletzungsverfahren anstrengen. Die zweite Option seien der Konditionalitätsmechanismus und andere finanzielle Instrumente. „Die polnische Regierung muss uns jetzt erklären, wie sie die europäischen Gelder schützen will – angesichts dieses Urteils ihres Verfassungsgerichts,“ sagte von der Leyen. „Denn in den kommenden Jahren werden wir mit dem mehrjährigen Haushalt und dem Aufbauprogramm NextGenerationEU 2100 Mrd. Euro investieren. Das ist das Geld der europäischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Und wenn unsere Union mehr als je zuvor investiert, um unseren Aufbau voranzubringen, müssen wir den Unionshaushalt vor Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit schützen.“ Drittens könne die Kommission ein Verfahren nach Artikel 7 anstrengen. „Es ist das stärkste Instrument des Vertrags“, unterstrich die Kommissionspräsidentin.
Zum Urteil des polnischen Gerichts sagte von der Leyen auch:
„Dies ist das erste Mal, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats feststellt, dass die EU-Verträge nicht mit der nationalen Verfassung vereinbar sind. Zweitens hat dies für das polnische Volk schwerwiegende Folgen. Denn das Urteil wirkt sich unmittelbar auf den Schutz des Justizwesens aus. Das Urteil untergräbt den in Artikel 19 des Vertrags garantierten Schutz der richterlichen Unabhängigkeit in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs. Ohne unabhängige Gerichte sind Menschen weniger geschützt und folglich ihre Rechte in Gefahr.
Die Menschen in Polen müssen sich wie alle Menschen in Europa auf eine gerechte und gleiche Behandlung durch die Justiz verlassen können. In unserer Union genießen alle dieselben Rechte. Dieses Grundprinzip wirkt sich entscheidend auf das Leben der Menschen aus. Denn wenn europäisches Recht in Grenoble, Göttingen oder Gdańsk unterschiedlich angewendet würde, könnten die Bürgerinnen und Bürger der EU nicht überall dieselben Rechte beanspruchen.“
Sie betonte: „Mit dem Beitritt zur EU hat das polnische Volk sein Vertrauen in die Europäische Union gesetzt. Es erwartet von der EU, dass sie für seine Rechte einsteht. Und dies zu Recht. Die Kommission ist die Hüterin der Verträge. Meine Kommission hat die Pflicht, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger der EU zu schützen – unabhängig davon, wo sie in unserer Union leben. Die Rechtsstaatlichkeit ist das, was unsere Union verbindet. Sie ist das Fundament unserer Einheit. Sie ist für den Schutz der Werte, auf die sich unsere Union gründet, unabdingbar: Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Achtung der Menschenrechte. Dazu haben sich alle 27 Mitgliedstaaten mit ihrem Beitritt zur Union als souveräne Staaten und freie Völker bekannt.“
Die Kommission werde nicht zulassen, dass die gemeinsamen Werte der EU aufs Spiel gesetzt werden.
EU-Kommission / 19.10.2021