Technologien müssen den Menschen dienen, anstatt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie zu gefährden – ausgehend von dieser Maxime wenden sich Reporter ohne Grenzen (RSF) und 30 weitere zivilgesellschaftliche Organisationen heute (13.07.) mit einer gemeinsamen Erklärung, der „People’s Declaration“, an das Europäische Parlament. Sie fordern die Abgeordneten auf, sich im Rahmen der aktuellen Verhandlungen zum Digitale-Dienste-Gesetz (Digital Services Act, DSA) für wirksame Maßnahmen gegen die Verbreitung von Hass und Desinformation, gegen missbräuchliche Werbepraktiken und für den Schutz der Meinungs- und Informationsfreiheit einzusetzen.
„Wir fordern ein besseres Internet, in dem Bürger Zugang zu grundlegender Infrastruktur und Informationen erhalten. In der sie Partizipation und Konnektivität als Bereicherung erleben“, so die Unterzeichnenden. Online-Plattformen müssten ihr Design umbauen und Nutzerinnen und Nutzern mehr Kontrolle über ihre Daten und den Einfluss von Algorithmen auf die angezeigten Inhalte geben. Derzeit begünstigten die Algorithmen Desinformation und Hassrede. Ebenso müssten das Digitale-Dienste-Gesetz und das parallel verhandelte Digitale-Märkte-Gesetz (DMA) intransparenten und missbräuchlichen Werbepraktiken ein Ende setzen. Das aktuelle Modell der dominierenden Plattformen gebe Menschen keine wirksamen Auswahlmöglichkeiten. Somit könne die Nutzung dieser Plattformen auch nicht als Einwilligung verstanden werden. Zuletzt dürfe der DSA die Versäumnisse der europäischen Datenschutzregulierung nicht wiederholen. Stattdessen müssten Aufsichtsstrukturen geschaffen werden, die in der Lage seien, die europäischen Vorgaben effektiv durchzusetzen.
Verschiedene Ausschüsse des Europäischen Parlaments formulieren derzeit ihre Positionen zu dem Gesetzentwurf, den die Kommission im Dezember 2020 vorgestellt hat. Eine gemeinsame Haltung des Parlaments soll im Dezember 2021 beschlossen werden. Im kommenden Jahr sollen Kommission, Parlament und Mitgliedstaaten in die Verhandlungen treten.
Die gemeinsame zivilgesellschaftliche Erklärung spiegelt Kernpunkte des Positionspapiers wider, das Reporter ohne Grenzen im Frühjahr veröffentlicht hat. In dem Papier formuliert RSF Empfehlungen für eine europäische Plattformregulierung, die der demokratieschädlichen Verbreitung von Desinformation und Hass im Netz entgegentreten und zugleich das Recht auf Informationsfreiheit stärken muss. So fordert RSF, Online-Plattformen zu verpflichten, ihre Auswirkungen auf Grund- und Menschenrechte unabhängig überprüfen zu lassen und schädliche Strukturen umzubauen. Der vorliegende Gesetzentwurf konzentriert sich auf die Auswirkungen nutzergenerierter Beiträge und die Möglichkeiten zur Entfernung illegaler Inhalte. Er versäumt es aber, auf die systemischen Probleme eines Geschäftsmodells einzugehen, das darauf abzielt, die Aufmerksamkeit der Nutzenden zu maximieren.
Eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung der digitalen „Infodemie“ weist RSF zudem konstruktiven Ansätzen zur Förderung vertrauenswürdiger Beiträge zu. Statt es den Plattformen zu überlassen, Inhalte nach intransparenten Kriterien prominenter anzuzeigen oder algorithmisch zu benachteiligen, müssten sie in die Verantwortung genommen werden, Medien sichtbarer zu machen, die sich durch sorgfältige redaktionelle Prozesse auszeichnen. Einen transparenten Kriterienkatalog hat RSF mit der Journalism Trust Initiative geschaffen, den RSF gemeinsam mit 130 Vertreterinnen und Vertretern von Medien, Verbraucherorganisationen, Technologieunternehmen, Regulierungsbehörden und Nichtregierungsorganisationen erarbeitet und im Dezember 2019 unter der Aufsicht des Europäischen Komitees für Normung (CEN) veröffentlicht hat. So soll es Leserinnen und Lesern, Plattformen und Werbetreibenden leichter gemacht werden, vertrauenswürdige Quellen zu identifizieren. Der DSA sieht Vorgaben vor, Plattformen in Krisenzeiten zu verpflichten, Informationen von Behörden der Mitgliedstaaten oder der EU „prominent“ anzuzeigen. RSF plädiert indes eindringlich dafür, unabhängige journalistische Quellen zu fördern, statt staatliche Informationsquellen zu begünstigen.
Auch an anderen Stellen fehlt es an Schutzmechanismen vor staatlichen Eingriffen in die Meinungs- und Informationsfreiheit. Da es den Mitgliedstaaten obliegt zu definieren, was einen „illegalen Inhalt“ ausmacht, fordert RSF sowohl wirksame Möglichkeiten für die Nutzenden, sich juristisch gegen Löschentscheidungen zu wehren, als auch eine Möglichkeit für die Plattformen, Löschanordnungen, die das Recht auf Meinungsfreiheit verletzen, zu verweigern und unabhängig prüfen zu lassen. Zunehmende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit in EU-Staaten wie Ungarn, Polen und Slowenien unterstreichen, wie dringend diese Forderung ist.
RSF / 13.07.2021