Das Leben schreibt seine eigenen Geschichten und ist manchmal leise, manchmal laut, voller Glück und im nächsten Moment voller Trauer. Hans Steinbichler verfilmt den gleichnamigen Bestseller von Robert Seethaler – eine Liebeserklärung an das Leben in den Bergen mit allen Höhen und Tiefen.
Der einfache Hilfsarbeiter Andreas Egger blickt im hohen Alter auf sein Leben zurück und bemerkt, dass er bis auf einen Einsatz im Zweiten Weltkrieg und einer Kriegsgefangenschaft bei den Russen nie sein Heimattal verlassen hat. Hier hat er seine Kindheit bei einem Ziehvater verbracht, der ihn regelmäßig prügelte. Hier hat er seine große Liebe Marie gefunden und wieder verloren, aber nie vergessen. Und hier wird er auch irgendwann seine letzte Ruhe finden.
EIN GANZES LEBEN ist das Sinnbild einer epochalen Romanverfilmung, malerisch wie die beeindruckende Landschaft, aber rau und kalt in der Härte des Alltags der Familien. Steinbichler schafft ein realistisches Bild des frühen 20. Jahrhunderts und zeichnet neben dem Leben der Hauptfigur auch die Industrialisierung einer abgeschiedenen Bergregion nach. Mit der Seilbahn, dem motorisierten Verkehr und den Straßen hielt auch der Strom ins Tal Einzug und dann kamen die Touristen. So rückt nicht nur das Leben der Hauptfigur Andreas Egger, in jedem Altersabschnitt sehr überzeugend dargestellt durch Ivan Gustafik, Stefan Gorski und August Zirner, in den Mittelpunkt, sondern auch die Domestizierung der Alpen mit der Wandlung des Tals vom Bauerndorf zur asphaltierten Touristenhochburg mit Gletschertouren. Dabei verschweigt der Film auch nicht die Opfer des Fortschritts und zeigt das Leid, auf dem manches Fundament erbaut wurde. Die Kameraarbeit von Armin Franzen lässt viel Raum zum Atmen der Bergluft, die beim Anschauen des Films spürbar durch das Kino zu gleiten scheint. So wird der Film auch zu einem Loblied auf die Natur und die alles umgebende Landschaft, vor der selbst die Hauptfiguren ganz demütig und andächtig werden. Wo der Hilfsarbeiter Andreas Egger schlussendlich staunend vor seinem Leben steht, steht der Zuschauende staunend vor diesem monumentalen Zeitkolorit.
Jury-Begründung / Prädikat besonders wertvoll
Hans Steinbichler adaptiert Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“ als tatsächlich großes Kino: Die Geschichte des Andreas Egger, der Zeit seines Lebens rund um das Tal verbringt, in dem er als Kind auf dem Berghof seines Onkels aufwuchs, erzählt Steinbichler vor großartig eingefangener Bergkulisse mit einer Vielzahl an überzeugenden Darstellern und einem wunderbar feinen Gespür für Atmosphäre. Was leicht hätte pathetisch geraten können mit unguten Anklängen an die kitschige Version des Heimatfilms, wird hier zum berührenden Epos über ein Leben, das sich als reich an Entbehrungen, aber auch reich an intensiven Erlebnissen erweist. Zugleich zeichnet der Film eine regionale Geschichte des 20. Jahrhunderts, innerhalb dessen sich die ökonomischen Lebensgrundlagen der Bergbauern radikal veränderten und modernisierten.
Es ist der präzise Blick für Ort und Umgebung, der der Jury besonders gut gefiel. Nichts wirkt künstlich hinzugefügt oder zu stark digital bearbeitet – die Bergwelt mit ihren einsamen Höhen und den sich transformierenden Siedlungen im Tal kommt als vollkommen organisch herüber, sie wird nicht zuletzt durch die Entwicklung von einem Ort der Armut und Entbehrung zu einem des blühenden Bergtourismus eine eigene Art von Protagonist der Geschichte. Der Plot verläuft anekdotenhaft und in Zeitsprüngen, das Schicksal von einzelnen Figuren wird angeschnitten und scheinbar fallengelassen, nur um später doch wieder aufzutauchen. Diese Erzählweise verstärkt das mehr auf sinnliche Eindrücke denn auf Dialoge setzende Konzept des Films: Er versucht ein Erleben zu vermitteln, bei dem Naturkatastrophen, persönliche Tragödien und passives Teilhaben an Zeitgeschichte genau das formen, was der Titel besagt: ein ganzes Leben.
Das paradoxe Fazit des Romans, dass Andreas Egger trotz erlittener Schicksalsschläge und einem von relativer Armut und harter körperlicher Arbeit geprägten Alltag sein Leben zuletzt als reich empfindet, macht der Film auf wunderbare Weise nachvollziehbar. Das ist der großartigen Kameraarbeit (Armin Franzen) zu verdanken, die die Bergwelt in beeindruckenden Panoramen einfängt, ohne das Stereotyp „Bergfilm“ zu bedienen, aber auch den Darstellern, angefangen von Stefan Gorski und August Zirner, die den verschlossenen Andreas Egger in verschiedenen Lebensaltern verkörpern, über Andreas Lust als übermäßig strenger und ausbeutender Onkel bis hin zu Robert Stadlober und Thomas Schubert, die als Nebenfiguren eigene Seitenstränge der Handlung prägen. Hans Steinbichler ist nach Meinung der Jury ein Film gelungen, der nicht nur den Stoff der Vorlage hervorragend adaptiert, sondern selbst auch dessen Haltung wiedergibt. EIN GANZES LEBEN zeigt, wie Andreas als Kind geschlagen und ausgebeutet wird, wie er sich trotz alledem wie aus dem Nichts ein eigenes, selbstgenügsames Leben aufbaut und seine große Liebe findet, und wie ihm das wiederum genommen wird, ohne Beschönigungen und ohne Sentimentalität, aber doch immer mit einer Sensibilität, die Einfühlung möglich macht. Die Jury vergibt sehr gerne das Prädikat BESONDERS WERTVOLL.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) / 07.11.2023
Foto: FBW