Zwei Jahre nach dem Fall Kabuls erinnert Reporter ohne Grenzen (RSF) an das Schicksal und den Widerstand afghanischer Journalistinnen und Journalisten. Sie recherchieren trotz schwierigster Bedingungen vor Ort weiter oder informieren die Bevölkerung aus dem Exil. RSF hat mit Medienschaffenden gesprochen, die dafür kämpfen, den afghanischen Journalismus am Leben zu halten.
Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 ist die Medienlandschaft Afghanistans deutlich geschrumpft. Die Taliban drohen Medienschaffenden und verfolgen sie, nehmen Reporter fest, verdrängen Journalistinnen aus der Medienlandschaft, zensieren Berichte und durchsuchen Redaktionen. Vor diesem Hintergrund blickt RSF auch besorgt auf die Entwicklungen beim Bundesaufnahmeprogramm. Die Initiative der Bundesregierung verfehlt ihr Mandat, besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen – unter ihnen zahlreiche Medienschaffende – eine Aufnahme zu ermöglichen.
„Die Lage der Pressefreiheit in Afghanistan ist erschütternd. Doch die Widerstandsfähigkeit afghanischer Journalistinnen und Journalisten macht Mut. Sie kämpfen im In- und Ausland dafür, weiter unabhängig über die Lage vor Ort berichten zu können. RSF steht an ihrer Seite“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.
Mihr fügte hinzu: „Seit Beginn des Bundesaufnahmeprogramms weisen wir immer wieder auf seine Schwachstellen hin, geben Verbesserungsvorschläge und betonen die Dringlichkeit – doch unsere Kritik verhallt. Die eigentlich begrüßenswerte Initiative ist bisher eine einzige Enttäuschung.“
Taliban zerstören Medienpluralismus
Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich in Afghanistan eine Medienlandschaft entwickelt, in der Frauen weitgehend fehlen. Mehr als 80 Prozent der afghanischen Journalistinnen mussten seit Mitte August 2021 ihre Arbeit aufgeben.
„Es wird jeden Tag schlimmer. Mir wurde wiederholt das Recht verweigert, über Ereignisse zu berichten, nur weil ich eine Frau bin“, sagt eine Journalistin, die für einen Fernsehsender in Kabul arbeitet und anonym bleiben möchte. „Als Journalistin muss ich alles, was ich tue, zweimal überdenken.“ Journalistinnen könnten zum Beispiel nicht an Talkshows mit Männern teilnehmen oder ihnen Fragen stellen. „Daher mussten viele Journalistinnen ihre Karrieren aufgeben. Viele zogen es vor, die Redaktion zu verlassen und zu Hause zu bleiben, anstatt sich an ihren Schreibtischen gefangen zu fühlen.“
Die Taliban haben große Teile der einst lebendigen Medienlandschaft Afghanistans zerstört. Jüngstes Beispiel: Anfang August schlossen die lokalen Behörden in der Provinz Nangarhar die Räume des Radio- und Fernsehsenders Hamisha Bahar.
Mehr als die Hälfte der 547 Medien, die 2021 registriert waren, sind nach Angaben der Afghan Independent Journalists Association (AIJA) inzwischen verschwunden. Von den 150 Fernsehsendern arbeiten heute weniger als 70. Von den 307 Radiosendern berichten nur noch 170. Die Zahl der Nachrichtenagenturen ist von 31 auf 18 gesunken. Und von den rund 12.000 Journalisten und Journalistinnen, die 2021 noch in Afghanistan arbeiteten, haben mehr als zwei Drittel ihren Beruf aufgegeben.
„Am stärksten betroffen sind die Lokalmedien“, sagt Zarif Karimi, Direktor der Organisation NAI-Supporting Open Media in Afghanistan. „Wenn es so weitergeht wie bisher, werden bald viele weitere Medien gezwungen sein, zu schließen. Folglich erleben afghanische Journalistinnen und Journalisten derzeit eine Identitätskrise.“
Arbeiten in Angst
Die Medien, die nicht schließen mussten, arbeiten unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen. „Wir Journalisten fühlen uns durch die Festnahmen und die Schikanen, denen wir ausgesetzt sind, verängstigt, niedergeschlagen und verzweifelt und zensieren uns selbst“, sagt ein Fernsehjournalist in Kabul, der ebenfalls anonym bleiben möchte.
„Diejenigen, die fair und präzise berichteten, wurden inhaftiert, mussten ihre Arbeit aufgeben oder das Land verlassen“, so der Journalist. „Die Hauptaufgabe der derzeitigen Behörden ist die Zensur. Die Taliban dulden keinen Widerstand gegen ihre Politik. Wir haben hier keine Unterstützer. Wir wissen nur, dass wir damit fertig werden müssen.“
Mediendirektoren und Chefredakteure, die in Afghanistan weiter Artikel veröffentlichen oder Programme senden wollen, wissen das genau. Wenn sie überleben wollen, müssen sie sich an viele Vorschriften der Taliban halten, die die journalistische Arbeit erheblich einschränken. Unter ihnen sind etwa die „Elf Regeln für den Journalismus“, die die Medienbehörde der Taliban-Regierung im September 2021 verkündet hatte. RSF analysierte damals, dass diese vage formulierten Grundsätze den Weg zu Zensur und Verfolgung ebnen. Gleichzeitig gibt es praktisch keine Gesetze, die Journalistinnen und Journalisten schützen.
Harter Weg ins Exil
Vor dem Hintergrund der unerbittlichen Schikanen der Taliban gegen Medienmitarbeitende mussten viele afghanische Journalistinnen und Journalisten ins Ausland fliehen. „Wir wollten weiterarbeiten, aber das erwies sich bald als viel zu gefährlich, und einige Kollegen wurden von den Taliban misshandelt“, sagt Zaki Daryabi, Gründer des investigativen Online-Magazins Etilaatroz, das 2012 als Printmedium gestartet wurde. Daryabi floh im Oktober 2021, zwei Monate nach der Machtübernahme der Taliban, aus Kabul.
Vor seiner Abreise wurden sein jüngerer Bruder, Etilaatroz-Reporter Taqi Daryabi, und der Etilaatroz-Kameramann Nematullah Naqdi festgenommen und verprügelt, als sie über einen Frauenprotest in Kabul berichteten. Zaki Daryabi erhielt auch eine Vorladung, ging aber nicht zur Polizei, um nicht festgenommen zu werden. Ihm und anderen Mitarbeitenden des Magazins gelang es, Flugtickets zu bekommen und das Land zu verlassen. Doch für die Mitarbeitenden von Etilaatroz ist der Weg ins Exil wie für die meisten afghanischen Journalistinnen und Journalisten, die das Land verlassen konnten, voller Fallstricke und Umwege.
Eine neue Generation
In den USA gelang es Zaki Daryabi schließlich, einen Teil des über die ganze Welt verstreuten Teams von Etilaatroz wieder zusammenzubringen, um sein Online-Magazin und die Online-Zeitung KabulNow neu zu starten. Beide Medien haben inzwischen zehn Mitarbeitende im US-Bundesstaat Maryland und rund 30 Korrespondentinnen und Korrespondenten in Afghanistan.
„Das Erstaunlichste ist, dass unsere Online-Leserschaft in den vergangenen zwei Jahren erheblich zugenommen hat und dass das Gebiet, das wir abdecken, größer ist als früher“, sagt Daryabi. „Auch unsere Präsenz in den sozialen Medien hat in dieser Zeit stark zugenommen.“
Diese Entwicklung haben die Taliban nicht vorausgesehen: Eine neuen Generation von vernetzten Afghaninnen und Afghanen, die sich seit zwei Jahrzehnten an den Konsum relativ freier und pluralistischer Medien gewöhnt hatten, haben nicht vor, sich von den Taliban vorschreiben zu lassen, wie sie denken und kommunizieren sollen.
Auf ihrer Suche nach unabhängigen Informationen sind die Menschen in Afghanistan darum zunehmend auf Exilmedien angewiesen. Um die freie Berichterstattung aus dem Exil heraus weiterhin zu gewährleisten, wird der JX Fund, der im April 2022 gemeinsam von Reporter ohne Grenzen, der Schöpflin Stiftung und der Rudolf Augstein Stiftung gegründet wurde, in Zukunft auch afghanische Medien und Medienschaffende im Exil unterstützen. Der Start des Programms ist für Oktober 2023 geplant.
Journalistinnen trotzen den Gefahren
„Die Taliban wollen Frauen aus der Gesellschaft und vor allem aus den Medien verdrängen“, sagt Zahra Nader, eine in Kanada lebende Journalistin afghanischer Herkunft. „Wir haben gesagt, dass wir das nicht zulassen können. Das war eine Entscheidung, die wirklich aus dem Herzen kam. Wir mussten die Welt über die Geschehnisse auf dem Laufenden halten.“
Vor einem Jahr gründete Nader die Webseite Zan Times. „Zan bedeutet Frau auf Dari“, sagt die Journalistin. „Als ich sah, wie die Taliban an die Macht zurückkehrten, sagte ich mir zusammen mit einigen anderen Journalistinnen, dass es unsere Verantwortung ist, dort zu sein, was auch immer mit uns passiert. Es war unsere Pflicht, laut und deutlich zu sagen, dass wir immer noch hier sind. Wir wollen zeigen, was es wirklich bedeutet, unter den Taliban eine Frau zu sein.“
Ein Jahr nach dem Start arbeiten rund 15 Mitarbeitende für die Zan Times. Die Hauptredaktion befindet sich außerhalb Afghanistans, fünf Reporterinnen arbeiten jedoch in Vollzeit im Land in verschiedenen Provinzen.
„Natürlich ist die schwierigste Aufgabe, für ihre Sicherheit zu sorgen“, sagt Nader. „Sie kennen einander nicht, was nicht einfach ist, wenn es darum geht, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Sie schreiben unter Pseudonymen, aber ich freue mich schon auf den Tag, an dem wir ihre Identitäten offenlegen und ihren Mut anerkennen können. Wir setzen Vermittler ein, für den Fall, dass sie einem Taliban-Führer Fragen stellen müssen, was sie in große Gefahr bringen würde.“
Vor drei Monaten hat die Zan Times auf ihrer Dari-Webseite eine Rubrik gestartet, in der sie Medienschaffende sowie Leserinnen und Leser auffordert, Themen für investigative Recherchen in den Gebieten vorzuschlagen, in denen sie sich aufhalten. Ein Redaktionsausschuss bespricht die Vorschläge, prüft Informationen, bewertet mögliche Risiken und entscheidet, wie das Thema angegangen werden kann.
„Die Idee kam uns, weil wir uns mit vielen Journalistinnen verbunden fühlten, die in ihren Häusern eingesperrt waren“, sagt Nader. „Wir nutzen sie auch als Weiterbildungsmöglichkeit, um die Fähigkeiten all dieser Journalistinnen zu schärfen und die öffentliche Debatte zu fördern. Eine Herausforderung besteht derzeit darin, die Berichterstattung in den Gemeinden zu stärken. Wir versuchen, eine neue Form des Journalismus zu schaffen.“
Bundesaufnahmeprogramm lässt Journalisten hängen
Ein weiterer Hoffnungsschimmer für afghanische Journalistinnen und Journalisten war das Mitte Oktober 2022 angelaufene Bundesaufnahmeprogramm: Jeden Monat wollte die Bundesregierung 1.000 gefährdete Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland holen. Schon kurz nach Beginn des Programms bemängelte RSF die zahlreichen Schwachstellen. Viele Kritikpunkte bestehen auch fast ein Jahr nach dem Start weiter.
Zwar gab es inzwischen sechs Auswahlrunden, in denen Personen ermittelt wurden. Bisher ist unter dieser Initiative aber noch niemand nach Deutschland gekommen. RSF ist nicht bekannt, dass die von der Organisation eingereichten Fälle eine Aufnahmezusage bekommen haben.
Vielmehr ist die Bundesregierung noch damit beschäftigt, den Tausenden Personen eine Einreise zu ermöglichen, die schon vor dem Start des Programms eine Aufenthaltszusage bekommen haben. Zu ihnen gehören unter anderem Personen, die einen Antrag auf ein humanitäres Visum nach § 22 des Aufenthaltsgesetzes eingereicht hatten.
Zudem pausierte das Visaverfahren des Bundesaufnahmeprogramms knapp drei Monate und lief erst Ende Juni wieder an. Hintergrund waren Sicherheitsbedenken nach Hinweisen auf mögliche Missbrauchsversuche – eine Entwicklung, die RSF wenig überrascht hat. Die Organisation bemängelte von vorneherein, dass die Bundesregierung Aufgaben, die sie eigentlich selbst übernehmen sollte, auf die Zivilgesellschaft abwälzt.
Seit der Wiederaufnahme müssen alle Antragsteller eine zusätzliche Sicherheitsüberprüfung durchlaufen. Diese findet in der deutschen Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad statt. Laut Medienberichten warteten Ende Juni insgesamt rund 14.000 Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage auf ihr Visum. Vor dem Hintergrund kann es daher noch etliche Monate dauern, bis die ersten afghanischen Journalistinnen und Journalisten unter dem Bundesaufnahmeprogramm nach Deutschland kommen können.
Reporter ohne Grenzen e.V. / 11.08.2023
Logo: RSF