- Rund um die Uhr über die Kreisbahn von Nardò bei 40 Grad Außentemperatur
- Eindrucksvoller Zuverlässigkeitsbeweis für den neuen Motor mit Vierventiltechnik
- In nur fünf Minuten ein kompletter Service am heißen Motor sowie Reifenwechsel
„Close-up“ – der Name der Serie des Mercedes-Benz Museums ist Programm. Jede Folge erzählt Überraschendes, Spannendes, Hintergründiges. Dazu wirft sie den Spot auf Details eines Fahrzeugs, Ausstellungsexponats oder eines Elements von Architektur und Gestaltung. Diesmal im Blick: der Nardò-Rekordwagen Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 (W 201) aus dem Jahr 1983.
Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 (W 201) „Nardò-Rekordwagen“ von 1983
Aussicht: Die Präsentation ist spektakulär. Am Ende des Rundgangs sind sieben Rekordfahrzeuge an der senkrechten Wand des Mercedes-Benz Museums montiert. Sie bilden den Abschluss der Steilkurve des Raums Mythos 7: Rennen und Rekorde. An Position vier ist der Nardò-Rekordwagen Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 (W 201) aus dem Jahr 1983 zu sehen. Eines jener Fahrzeuge, die vor 40 Jahren eine neue Weltbestzeit über 50.000 Kilometer erzielen.
Original: Drei identische 190 E 2.3-16 schickt das Unternehmen damals auf die Rundstrecke von Nardò. Alle kommen ins Ziel. Um die Teams während der Fahrten jederzeit sicher identifizieren zu können, erhalten die Autos eine Farbcodierung („grün“, „rot“ und „weiß“). Im Mercedes-Benz Museum ist das Fahrzeug des „grünen“ Teams ausgestellt. Es ist konserviert, aber nicht restauriert: Wer genau hinschaut, entdeckt Gebrauchsspuren von damals.
Sportabzeichen: Der Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 ist vor 40 Jahren das neue Topmodell der Baureihe W 201. Ein Novum ist sein Vierventilmotor: Je Verbrennungsraum weist das Vierzylinderaggregat zwei Einlass- und zwei Auslassventile auf. Es entwickelt aus einem Hubraum von 2.299 Kubikzentimetern eine Leistung von 136 kW (185 PS). Die Serienausführung dieses sportlichen „Baby-Benz“ beschleunigt in 7,5 Sekunden von null auf 100 km/h und erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von 235 km/h. Damit ist der Sechzehnventiler ein Star des Jahres 1983.
Achteinhalb Tage mit 250 km/h: Die drei Fahrzeuge stellen vom 13. bis 21. August 1983 auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke im süditalienischen Nardò gleich mehrere Weltrekorde auf. Der schnellste 190 E 2.3-16 legt in 201 Stunden, 39 Minuten und 43 Sekunden eine Distanz von 50.000 Kilometern zurück. Die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt 247,9 km/h. Neben dieser Leistung setzt das Trio zwei weitere Weltrekorde über 25.000 Kilometer sowie neun Klassenrekorde.
Verlässlichkeit: Die Rekorde sind für die Autos und vor allem für den Vierventilmotor des „Baby-Benz“ eindrucksvolle Zuverlässigkeitsbeweise über eine extreme Langstrecke. Damit macht Mercedes-Benz die neue Motorentechnik populär. Rund vier Wochen nach der Rekordfahrt präsentiert das Unternehmen den 190 E 2.3-16 auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am Main erstmals der Öffentlichkeit.
Modifiziert: Technik und Optik der rund 260 km/h schnellen Rekordfahrzeuge entsprechen weitgehend der Serienversion. Das gilt insbesondere für die Vierzylindermotoren M 102: Es sind Serienaggregate mit zwei oben liegenden Nockenwellen und 16 Ventilen sowie der Serienleistung von 136 kW (185 PS). Nur Einspritzanlage und Zündung sind den besonderen Betriebsbedingungen angepasst, dem Fahren bei konstant hoher Last und einer Drehzahl von rund 6.000/min. Dazu kommen eine „schärfere“ Nockenwelle, ein kleinerer Kühler und der Wegfall des Lüfters, weil bei den hohen Fahrgeschwindigkeiten der normale Fahrtwind für die Durchströmung des Kühlers ausreicht.
Aerodynamik: Die Kühlermaske ist mit einem schnell austauschbaren Insektengitter abgedeckt, um ein Verstopfen der Luftkanäle zu vermeiden. Damit bei den niedrigeren Nachttemperaturen die Betriebstemperatur des Motors nicht absinkt, ist zudem eine Kühlerjalousie montiert, mit der vom Fahrersitz aus der Kühler bis zu zwei Drittel abgedeckt werden kann. Das reduziert auch den Luftwiderstand weiter. Andere Maßnahmen zur Optimierung der Aerodynamik betreffen die geschlossenen Felgen, Tieferlegung um 30 Millimeter sowie Motorraum- und Unterbodenverkleidungen.
Weniger Gewicht: Außerdem sind die Fahrzeuge etwas leichter. So haben sie beispielsweise keinen Rückwärtsgang, weil dieser nicht erforderlich ist. Die Lenkung arbeitet mechanisch. Denn auf der überhöhten Kreisbahn wird nahezu seitenkraftfrei gefahren, also praktisch immer „geradeaus“, sodass die für die Serienausführung vorgesehene Servounterstützung nicht notwendig ist. Anstelle der Rückbank führen die Rekordfahrzeuge reglementbedingt ein Sortiment der wichtigsten Ersatz- und Verschleißteile mit, zum Beispiel Luftfilter, Ölfilter, Zündkerzen, Zündkabel und Lichtmaschine. Nur mit diesen Teilen ist eine Reparatur erlaubt.
Schreckmoment: Ein Verteilerfinger fehlt im Teilevorrat an Bord, schließlich hält diese Komponente üblicherweise sehr zuverlässig. Beim im Museum ausgestellten Fahrzeug des „grünen“ Teams bricht aber ausgerechnet dieses Bauteil während der Rekordfahrt. Das ist ein Schreckmoment für das Team, das von Gerhard Lepler geleitet wird. Doch mit großem Improvisationsvermögen schaffen es die Techniker und Ingenieure, die Zündung wieder in Gang zu bringen. Auch der Schaden am Unterboden durch die Kollision mit einem Fuchs kann den „grünen“ 190 E 2.3-16 nicht aufhalten. So kommen alle drei Fahrzeuge schließlich erfolgreich ins Ziel. Die Reihenfolge lautet „rot“, „weiß“ und „grün“.
Bekanntes Terrain: Für Fahrerteam und Boxenmannschaft des Mercedes-Benz Versuchsbereichs ist der Rundkurs an der Stiefelspitze Italiens damals schon kein unbekanntes Terrain. Sämtliche neuen Modelle müssen auf dem Weg zur Serienreife ähnlich harte und ausgiebige Testfahrten durchstehen, die auch dort ausgeführt werden. In den Jahren 1976, 1978 und 1979 stellt man außerdem in Nardò mit den verschiedenen C 111-Diesel- und Benzin-Versionen zehn Distanz- und zwei Zeit-Weltrekorde auf. Die Bedingungen in Nardò sind 1983 sehr fordernd für Autos und Fahrer. Die Rekordfahrten auf der 12,6 Kilometer langen, kreisrunden Erprobungsbahn finden bei Temperaturen von tagsüber 40 Grad Celsius außen und mehr als 50 Grad Celsius im Fahrzeuginnenraum statt. Rund um die Uhr geht die Fahrt, immer im Kreis herum.
Erkennbar: Um unabhängig von der offiziellen Zeitnahme jederzeit über die Zahl der gefahrenen Runden, die zurückgelegte Strecke oder die Durchschnittsgeschwindigkeit informiert zu sein, haben die drei Fahrzeuge Kennungssender unterschiedlicher Frequenz und zusätzlich Kennleuchten unterschiedlicher Farbgebung, damit die verschiedenen Fahrzeuge bei Tag und bei Nacht eindeutig identifizierbar sind und die Durchfahrtzeiten per Doppellichtschranke zuverlässig ermittelt werden können. Abnehmbare Kunststoffkappen in den drei Farben schützen tagsüber die Scheinwerfer vor Verunreinigungen durch Insekten oder Beschädigungen.
Blitzschnell: Auf der Langstreckendistanz kommen die Fahrzeuge immer wieder zum Fahrerwechsel an die Box. Bei dieser Gelegenheit wird auch getankt, und die Scheiben werden geputzt. Alle 17.000 Kilometer erfolgt ein leicht längerer Aufenthalt. Innerhalb von ebenfalls rekordverdächtigen fünf Minuten erhalten die Fahrzeuge mit heißem Motor einen umfassenden Service: Wechsel aller Reifen sowie von Motoröl, Ölfilter und Zündkerzen. Außerdem wird das Ventilspiel eingestellt.
Untersuchungsobjekt: Neben der reinen Materialerprobung nutzt die Forschungsgruppe Berlin der damaligen Daimler-Benz AG diesen Langstreckentest zu verkehrspsychologischen Untersuchungen. So können zum ersten Mal Werte über Fahrerbeanspruchung unter genau definierten Bedingungen und damit aussagefähige Ergebnisse ermittelt werden.
Technologieträger: Der 190 E 2.3-16 im Ausläufer der Steilkurve des Mercedes-Benz Museums nimmt die einstige Durchschnittsgeschwindigkeit von rund 250 km/h auf ewig mit. Und schickt zugleich einen stillen Gruß an ein anderes Fahrzeug, das seit Kurzem im Museum steht: an den Benz Spezial-Tourenwagen „Prinz Heinrich“ aus dem Jahr 1910. Er wird ganz am Anfang von Mythos 7 präsentiert. Es ist eines von weltweit nur zwei verbliebenen originalen Fahrzeugen von Benz & Cie. für die Prinz-Heinrich-Fahrt des Jahres 1910. Hochtechnologie sind damals unter anderem Doppelzündung – und ebenfalls Vierventiltechnik.
Mercedes-Benz Museum / 17.08.2023
Foto: Mercedes-Benz Museum