In der Türkei wird am Sonntag ein neues Parlament und ein Präsident gewählt, und auch im Ausland ist das Interesse groß. Neben offiziellen Wahlbeobachtungsdelegationen der OSZE sind zahlreiche Menschen auf Einladung der Oppositionsparteien HDP (Demokratische Partei der Völker) und YSP (Grüne Linkspartei) in der Türkei, um den Ablauf zu verfolgen und darüber zu berichten. In den kurdischen Provinzen werden etwa 150 Personen aus Europa, darunter Jurist:innen, Medienschaffende, Abgeordnete und Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen und politischer Partei, die Wahlen beobachten.
Eine Wahlbeobachtungsdelegation aus Wien hält sich in Wan auf und hat junge Frauen nach ihrer Einschätzung der aktuellen Situation gefragt. Die Interviewpartnerinnen wollen aufgrund der herrschenden Repression anonym bleiben. In den letzten Wochen sind Hunderte Oppositionelle in der Türkei festgenommen worden, über sechzig Menschen wurden als vermeintliche „Terroristen“ verhaftet.
Wie bewertet ihr die Wahlen im Kontext der aktuellen Situation des Landes?
Je mehr wir uns den Wahlen nähern, desto stärker werden die Angriffe. Wir sehen diese Angst des Regimes vor einer Niederlage auch in der kürzlichen Verhaftungswelle gegenüber Anwält:innen, Journalist:innen und Künstler:innen. Die Wut in der Gesellschaft ist immens, die Menschen kommen ja auch wirtschaftlich nicht mehr über die Runden. Das Regime versucht, diese Wut in religiöse oder nationalistische Ausbrüche zu kanalisieren, und so ein Chaos im Land auszulösen. Es weiß, dass es seine letzten Tage sind, und versucht verzweifelt, sich durch eine Polarisierung der Gesellschaft und Konflikte an der Macht zu halten.
Was glaubt ihr, wie die Wahlen ausgehen werden?
Auch wenn es nicht direkt gesagt wird, zeigen die Regierenden, dass sie auch für einen Putsch bereit sind. Die Zeit nach der Wahl wird konflikthaft und gefährlich sein. Der Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu (CHP), den wir aus strategischen Gründen unterstützen, warnt seine Anhänger:innen vor öffentlichen Feiern im Falle eines Sieges. Es wird mit Sicherheit zu Provokationen kommen, die Stimmung ist bedrohlich. Das Regime wird nicht gehen, ohne davor den größtmöglichen Schaden anzurichten.
Die Situation ist sehr komplex, darum können wir auch nicht genau vorhersehen, was passieren wird. Es gibt zum Beispiel die erzkonservative Hüda-Par, die islamistische Maßnahmen wie geschlechtlich getrennte Bildung einführen will. Und auch für sie gibt es in der Osttürkei Unterstützung in bestimmten gläubigen Bevölkerungsteilen.
Wie wird eurer Meinung nach die Jugend, vor allem junge Frauen, auf so eine chaotische Zeit nach den Wahlen reagieren?
Vor allem erwarten wir von der Jugend, in jedem Moment die Selbstverteidigung der Gesellschaft aufrecht zu halten. Wir dürfen nicht in Hoffnungslosigkeit oder Ausweglosigkeit verfallen. Das ist genau das, was das Regime mit Chaos zu erreichen versucht: dass die Bevölkerung sich der Angst und Ausweglosigkeit ergibt. Zur Zeit können wir nicht vorhersehen, was passiert, und diese Ungewissheit signalisiert auch der Gesellschaft, dass alle wachsam sein müssen. Wir versuchen für unterschiedlichste Entwicklungen vorbereitet zu sein und zeichnen Auswege aus verschiedenen Szenarien vor, das meine ich mit gesellschaftlicher Selbstverteidigung. Zur Zeit verfolgen wir alles, was passiert, analysieren es und versuchen dementsprechend einzuschätzen, was passieren wird. Nur mit Wut können wir diese komplexe Situation nicht angemessen beantworten.