Sırrı Süreyya Önder, Spitzenkandidat der Grünen Linkspartei (YSP) im ersten Istanbuler Wahlbezirk, hat sich gegenüber ANF zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai geäußert. Der Filmemacher und Autor saß bereits zwischen 2011 und 2018 für die BDP und HDP im Parlament und war während des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Bewegung in den Jahren 2013 bis 2015 Sprecher der Imrali-Delegation.
Önder wies auf die Bedeutung einer starken Vertretung der Grünen Linkspartei im Parlament hin und sagte: „Die Befugnisse des Präsidialsystems und die Art und Weise, wie sie ausgeübt werden, sind klar. Was jedoch übersehen wird, ist, dass das Parlament zwei Möglichkeiten hat, wenn eine Partei, genauer gesagt die Partei des Präsidenten oder des Bündnisses, keine signifikante Dominanz im Parlament erreicht: Entweder eine Patt-Situation oder einen Kompromiss.“
Die Funktion der Grünen Linkspartei werde sich genau an diesem Punkt zeigen, so Önder weiter: „Ich habe von Anfang an die Schlüssel-Schloss-Metapher verwendet; wir werden als Schloss fungieren, um die brennenden Probleme zu lösen, und wir werden Kılıçdaroğlu nicht das Gefühl geben, dass er keine Wahl gegen eine Koalition hat, die hauptsächlich aus rechten Komponenten besteht. Andererseits, wenn er bei dieser demokratischen Transformation entmutigt ist oder zögert, kann diese Mehrheit, die Fraktion der Grünen Linken, als Barriere vor ihm stehen und das Parlament blockieren. Wir würden es also bevorzugen, wenn dies zu einer Kultur des Kompromisses und der Verhandlung führt.“
„Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“
Zur Bedeutung von Istanbul bei den Wahlen erklärte Önder: „Wenn wir nur die letzten 15 Jahre betrachten, hat unsere Reise, die wir mit drei Abgeordneten begonnen haben und die vorher mit nur einem Abgeordneten startete, jetzt ein Volumen erreicht, um eine Zahl zwischen 18 und 20 Mandaten anzustreben. Alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Provinzbezirken, die Vorstandsmitglieder und die Abgeordneten haben einen unbestreitbaren Anteil an dieser Arbeit. Wenn wir also von diesem Punkt ausgehen, wird immer der klischeehafte Satz ,Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei‘ gesagt. Und das ist nicht falsch. Istanbul steht für die Türkei sowohl in Bezug auf die statistischen Stichproben als auch in Bezug auf die Anzahl der Abgeordneten, die es im Parlament stellen wird. Deshalb ist Istanbul so wichtig.
Und was ist das Besondere? Der Unterschied ist sehr groß. Bei den Wahlkundgebungen in den Stadtbezirken sehen wir eine Menschenmenge, die derjenigen ähnelt, die wir früher zu Newroz gesehen haben. Viele unserer erfahrenen Freundinnen und Freunde, die früher vor Ort arbeiteten, sind entweder im Gefängnis oder im Exil, doch die Menschen ergreifen irgendwie die Initiative und entwickeln einen spontanen Willen im Wahlkampf. Das macht uns stolz und gibt uns Hoffnung.“
Fatalismus sollte vermieden werden
Önder weist hinsichtlich der Sicherheit der Wahlen darauf hin, dass die YSP anstelle der von einem Verbot bedrohten HDP antritt und als neue Partei keine offiziellen Beobachter:innen in den Wahllokalen stellen kann. Die gesamte Opposition kooperiere jedoch für die Wahlsicherheit und habe bestimmte Mechanismen eingerichtet. Darüber hinaus seien alle Wähler:innen berechtigt, die Auszählung der Stimmen in dem jeweiligen Wahllokal aus einer gewissen Entfernung beobachten: „Auch das ist eine wichtige Sicherheit. Wenn wir sicherstellen, dass das, was in die Wahlurne hineingeht und das, was aus ihr herauskommt, dasselbe ist, und wenn wir dies mit einem unterschriebenen Bericht verknüpfen, gibt es keinen Grund zur Sorge. Unsere Herangehensweise an dieses Thema sollte nicht dazu dienen, Ängste oder Befürchtungen zu schüren oder bestehende Bedenken zu verstärken.“
In Bezug auf die Möglichkeit, dass die AKP/MHP-Regierung die Macht nicht abgeben würde, wenn sie verliert, warnte Önder vor Fatalismus: „Dabei handelt es sich um einen Diskurs, den die Regierung selbst am meisten verbreitet. Derartige Äußerungen sollten vermieden werden.“
Wird es zu einer Stichwahl kommen?
Sollte bei der Präsidentenwahl kein Kandidat auf Anhieb die absolute Stimmenmehrheit erzielen, kommt es am 28. Mai zu einer Stichwahl. Önder erklärte dazu: „Es besteht die Möglichkeit, dass die Wahl in die zweite Runde geht. Darauf weisen auch einige der Umfragen hin. Bei den meisten scheint es zwar in der ersten Runde zu enden, aber wenn wir die wissenschaftliche Fehlermarge berücksichtigen und die Tatsache, dass die Reaktionen der Bodenwellen, die manchmal in der Gesellschaft auftreten, nicht immer mit der gleichen Sicherheit von den Umfrageunternehmen gemessen werden können, ist es auch möglich, dass es zu einer zweiten Runde kommt. Dann geht es darum, mit einem Vorsprung in die zweite Runde zu gehen. Das ist sehr wichtig. Denn bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen im zweiten Wahlgang wird die Regierung alle staatlichen Mittel mit aller Macht einsetzen.“
Unentschlossenheit zwischen YSP und CHP
Viele Menschen seien nach wie vor unentschlossen, welche Partei sie wählen sollen, so Önder: „Die unentschlossenen Wählerinnen und Wähler bestanden früher aus armen Menschen mit niedrigem Bildungsniveau. Bei dieser Wahl ist es zum ersten Mal anders. In den links-sozialdemokratischen und intellektuellen Kreisen herrscht große Unentschlossenheit. Alle haben eine klare Richtung, wenn es um die Präsidentschaftskandidatur geht, aber wenn es um die Partei geht, schwanken sie zwischen dem Dilemma, ob sie die Grüne Linkspartei oder die CHP wählen sollen. Hier liegt der größte Teil der Unentschlossenheit.“
„Das Parlament darf nicht den rechten Kräften überlassen werden“
Das kurdische Volk und die HDP erwarteten nichts anderes als Demokratisierung und Freiheiten, erklärte Önder weiter: „Sie verhandelten nicht, forderten keine Ämter und nominierten keinen eigenen Kandidaten, nur damit der Präsident im ersten Wahlgang gewählt werden kann. Und das taten sie in aller Transparenz. Sie haben eine strategische Haltung eingenommen. Wenn jedoch die Wähler der Grünen Linkspartei und die Kurdinnen und Kurden sehen, dass die linkssozialdemokratischen Kreise dies nicht zu schätzen wissen, werden einige von ihnen nicht bereit sein, im zweiten Wahlgang abzustimmen. Wenn die Linkssozialdemokraten dem Ansatz, der ausschließlich auf Demokratisierung und Freiheiten beruht, nicht die nötige Unterstützung geben, könnten sie zögern, an die Urnen zu gehen. Das sollte dringend in Betracht gezogen werden. In diesem Sinne halte ich es für sehr wichtig, dass die intellektuellen, demokratischen Kreise, die noch unentschlossen sind, Kılıçdaroğlu im Präsidentenamt und die Grüne Linkspartei im Parlament unterstützen. Das Parlament darf nicht den rechten Kräften überlassen werden.“