Die Erdbeben im Februar in Nordkurdistan, Rojava, der Türkei und Syrien kosteten unzähligen Menschen das Leben. Während offizielle Zahlen von mehr als 50.000 Todesopfern ausgehen, sprechen zivilgesellschaftliche Organisationen von weit höheren Verlusten an Leben. Unzählige Kinder haben ihre Eltern verloren. Viele Kinder sind verstorben oder verschwunden. Die Familien wenden sich zum Auffinden der Kinder an zivilgesellschaftliche Organisationen oder staatliche Einrichtungen. Familien von hunderten Kindern erhielten erst nach Wochen die Information, dass ihre Kinder auf Friedhöfen für Personen ohne Angehörige beigesetzt wurden. Auch überlebende Kinder sind „verschwunden“. Immer wieder wurden Fälle bekannt, in denen die Kinder in Waisenhäuser oder Einrichtungen islamistischer Organisationen wie der IHH gebracht wurden. Die Wut unter den Familien von „verschwundenen“ Kindern wächst. Sie fordern dringende Schritte zur Lösung des Problems.
Huriye Hamidi, Vorsitzende des Kinderrechtszentrums der Anwaltskammer Amed (tr. Diyarbakir), hat sich zu der dramatischen Situation geäußert. Die Rechtsanwältin sagt, dass das Familienministerium nach dem Erdbeben begonnen habe, Daten auszutauschen, und ein spezielles System für die Suche nach vermissten Kindern eingerichtet worden sei. Dieses System sei jedoch vollkommen unzureichend. Dies zeige sich schon an der Tatsache, dass die vom Ministerium und den Sicherheitsbehörden veröffentlichten Zahlen nicht übereinstimmten.
Kinder bei religiösen Sekten untergebracht
Hamidi berichtet von einer Flut von Anzeigen seit dem ersten Tag. Gleichzeitig gebe es sehr viele Falschmeldungen. „Natürlich hatten wir alle Schwierigkeiten, mit den Meldungen Schritt zu halten. Den Hintergrund mancher Meldungen konnten wir ermitteln, andere nicht. Semsûr [Adıyaman] ist eine der Regionen, mit denen wir den engsten Kontakt haben. Dort erhalten wir oft mehrere Anzeigen pro Tag. Immer wieder sehen wir auch, dass Kinder in der Region an Sekten, Institutionen und Organisationen, die dazu rechtlich gar nicht befugt sind, übergeben wurden. Wenn wir all dies zusammen bewerten, können wir sagen, dass es an Koordination mangelt und es keine transparenten Daten über die Kinder gibt“, so Hamidi.
„Familien werden ein weiteres Mal zu Opfern gemacht“
Die Anwältin beschreibt das Elend des Systems: „Nehmen wir einmal an, dass ein Kind aus den Trümmern geholt und zur Behandlung in eine andere Stadt gebracht wurde. Während die Familie noch unter Schock steht, weil sie ihre Angehörigen im Erdbebengebiet verloren hat, ist sie gezwungen, sich dem Stress auszusetzen, in eine andere Stadt zu fahren und ihr Kind in all diesem Chaos zu suchen. Wenn sie ihr Kind gefunden hat, muss sie gemäß den Verfahren eine DNA-Probe abgeben. Viele Menschen können keine Angaben zu ihrer Identität machen, weil sie ihre Papiere in den Trümmern verloren haben. Sie müssen den Prozess der Neuausstellung eines Personalausweises durchlaufen. All dies führt dazu, dass die Familien zwischen dem Gericht, der Polizei und den zuständigen Institutionen hin- und herpendeln, was die Erdbebenopfern ein weiteres Mal zu Opfern macht.“
Hamidi berichtet, dass selbst wenn die vermissten Kinder identifiziert wurden, ihre Familien oft aus finanziellen Gründen nicht in ihre Heimatstädte zurückkehren können: „Was hier zumindest getan werden muss, ist, dass, wenn ein Kind identifiziert wurde, die Familie geholt und durch die zuständigen Institutionen mit ihrem Kind zusammengebracht werden muss. Dann sollten die vereinten Familien in ihre Heimatstädte oder die Orte, an denen sie leben, zurückgebracht werden. Denn diese Situation ist wirklich eine finanzielle Belastung. Die Anwendung solch harter Verfahren für Familien oder Einzelpersonen, die vom Erdbeben betroffen sind, führt dazu, dass diese Menschen erneut verletzt werden.“
Zivilgesellschaft muss einbezogen werden
Eines der größten Probleme seit dem Erdbeben sei der Ausschluss von zivilgesellschaftlichen Organisationen und freiwilligen Helfer:innen von den Rettungsarbeiten im Erdbebengebiet gewesen, unterstreicht Hamidi und erklärt: „Es ist nicht hinnehmbar, zivilgesellschaftliche Organisationen und Freiwillige von diesen Regionen fernzuhalten. Es gibt bewährte Institutionen und Organisationen, die vor Ort tätig sind. Zum Beispiel haben Gesundheitsorganisationen dazu aufgerufen, Freiwillige für die Entnahme von DNA-Proben einzusetzen. Wir müssen in diese Region gehen und dabei helfen, DNA-Proben zu nehmen. Denn wenn diese Menschen ohne Identifizierung begraben werden, werden die Angehörigen vielleicht jahrelang nach ihren Toten suchen, ohne sie finden zu können.“
Hamidi fordert, dass die mit Kinderrechten betrauten Organisationen in die Arbeit im Katastrophengebiet und mit den minderjährigen Opfern einbezogen werden müssen. Abschließend sagt sie: „Wenn wir früher vor Ort gewesen wären, hätten wir vielleicht schon früher mit Spielangeboten für Kinder und psychosozialen Unterstützungsmaßnahmen beginnen können. Oder es hätten zumindest Krisendienste eingerichtet werden können, um Probleme wie vermisste Kinder und unbegleitete Minderjährige zu verhindern. Wenn es in diesen Regionen entsprechende Anzeigen gab, hätten wir direkt juristisch dagegen vorgehen oder die Familien an die richtigen Stellen verweisen können. In all diesen Fällen haben wir versagt, weil wir nicht vor Ort waren.“