Turgut Öker kandidiert bei den Parlamentswahlen in der Türkei am 14. Mai auf Listenplatz 4 im 1. Istanbuler Wahlbezirk für die Grüne Linkspartei (YSP). Der kurdisch-alevitische Politiker hat sich im ANF-Interview zum Wahlkampf, den Erwartungen der Alevit:innen an die YSP und der Sicht der Regierungspartei AKP auf die alevitische Gemeinschaft geäußert.
e übernehmen seit Jahren Verantwortung in alevitischen Vereinen. Was sind die Erwartungen der alevitischen Gemeinschaft an die Grüne Linkspartei?
Wenn wir die Grüne Linkspartei als Fortsetzung der HDP sehen, erwarten wir von ihr, dass sie die Minderheiten in der Türkei intellektuell und programmatisch positiv diskriminiert, dass sie alle gesellschaftlichen Gruppen privilegiert, deren Existenz und Lehren durch das offizielle, türkistische, islamistische Staatsverständnis bedroht sind, und dass sie diejenigen besonders privilegiert, die bisher in keiner politischen Partei im Kampf um Selbstdarstellung und Wiedergutmachung ihrer Missstände gesehen wurden. Derzeit gibt es in der Türkei keine andere Partei, die einen solchen Raum für Aleviten eröffnet hat. Es gibt keine zweite Partei, die ein spezielles Programm hat und verspricht, alle grundlegenden Forderungen, für die die Aleviten seit Jahrzehnten kämpfen, zu erfüllen, wenn sie an die Macht kommt.
Damit stellt sie eine Hoffnung nicht nur für Aleviten, sondern für alle Minderheiten in diesem Land dar. Für die Völker, Glaubensrichtungen und verschiedene gesellschaftliche Gruppen haben sich Räume der Meinungsäußerung geöffnet. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich mich, nachdem ich 35 Jahre in Europa gelebt habe, für diese Partei entschieden, weil sie programmatisch den fortschrittlichsten demokratischen, partizipatorischen Parteien in Europa entspricht. Nach sieben Jahren sehe ich, dass ich das Richtige getan habe. Zumindest haben wir keine Differenzen. Die YSP fragt nicht, warum Unterschiedlichkeiten betont werden müssen. Da alle grundlegenden Probleme der Aleviten im Parteiprogramm enthalten sind und wir zum ersten Mal ein alevitisches Referat innerhalb einer politischen Partei einrichten konnten, und weil wir die Möglichkeit haben, hier zu den grundlegenden Problemen der Aleviten zu arbeiten, ist die YSP die Adresse von Menschen geworden, die seit Jahren in alevitischen Einrichtungen arbeiten.
Unter den im Parlament vertretenen Parteien gibt es keine andere Partei mit einer alevitischen Quote. Als alevitische Organisationen haben wir die YSP bevorzugt, weil sie den Raum bietet, in dem alevitische Organisationen frei Aktivitäten durchführen können, ohne die Zustimmung und Genehmigung der autorisierten Organe der Partei einzuholen.
Welche Perspektive hat die YSP für Alevitinnen und Aleviten, die in Europa leben oder dort im Exil sind? Wie sehen sie die Partei?
Die HDP und die Konföderation der europäischen alevitischen Gemeinschaften (AABK) haben 2015 eine strategische Zusammenarbeit vereinbart. Als Präsident der AABK habe ich 2015 mit den Vorständen von fast 300 alevitischen Gemeindehäusern (cemevi) und Kulturzentren in ganz Europa das Programm der HDP evaluiert, und nachdem unser damaliger Ko-Vorsitzender Selahattin Demirtaş unsere Organisation persönlich besucht und uns eine strategische Zusammenarbeit angeboten hatte, sind wir mit der Zustimmung von 98 Prozent der Teilnehmenden an die Seite der HDP getreten. Unsere Gegenüberstellung und strategische Zusammenarbeit beschränkt sich also nicht auf die Wahl von Abgeordneten. Es handelt sich nicht nur um eine Solidarität von Wahl zu Wahl. In diesem Sinne sehen wir das Programm der HDP und das Programm der heutigen Grünen Linkspartei als ein und dasselbe an. Wir arbeiten strategisch zusammen, weil sich unsere Sicht auf das Leben, die Menschheit, die Welt und den Nahen Osten sowie unsere Programme zur Lösung der Probleme der in unserem Land lebenden Minderheiten mit den Programmen der YSP überschneiden. Diese Zusammenarbeit basiert auf der Freiheit in allen Bereichen, d.h. auf der Anerkennung des Rechts auf gleiche Staatsbürgerschaft für alle in diesen Ländern lebenden Bevölkerungsgruppen und Glaubensgemeinschaften.
Fast fünf Millionen unserer Bürgerinnen und Bürger leben im Ausland. Ein großer Teil dieses Potenzials sind Menschen, die jahrelang im Gefängnis waren, verhaftet und gefoltert wurden, insbesondere nach dem Militärputsch vom 12. September [1980]. Diese wertvollen Menschen können unter normalen Bedingungen nicht in diesem Land leben und sind deshalb im Ausland im Exil. In diesem Sinne ist die Demokratisierung dieses Landes unausweichlich, und eines unserer Hauptziele ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass unsere canlar [tr. Leben; alevitischer Ausdruck für Menschen/Lebewesen], die im Ausland mit Heimweh leben, so schnell wie möglich in dieses Land kommen und hier frei ihre Tätigkeit ausüben können. In diesem Zusammenhang habe ich 35 Jahre lang in Europa gelebt. Unter diesem Gesichtspunkt werden wir natürlich das Parlament in vollem Umfang nutzen, um die Forderungen und Anliegen unserer in Europa lebenden canlar und insbesondere unserer im Exil lebenden Politikerinnen und Politiker auf die Tagesordnung zu setzen und zu lösen.
Wie bewerten Sie die Politik der AKP gegenüber den Alevitinnen und Aleviten in den zwanzig Jahren ihrer Regierungszeit?
Die zwanzigjährige Politik der AKP zu der alevitischen Gemeinschaft unterscheidet sich nicht von der hundertjährigen Politik der Republik Türkei. Der Unterschied besteht nur im Erscheinungsbild. In hundert Jahren ist es ihr nicht gelungen, das Alevitentum und die alevitische Gemeinschaft vollständig auszurotten, aber heute, wie auch im letzten Jahrhundert, gibt es einen Ansatz, der anerkennt, dass man nicht weiterkommt, wenn man sie einfach ignoriert. Diese Akzeptanz ist ebenso gefährlich wie die Assimilierung und die Massaker der Vergangenheit. Und warum? Weil wir jahrelang für unseren Namen gekämpft haben. Inzwischen ist im Namen der Aleviten das Präsidium der alevitischen Bektaschi-Gemeindehäuser gegründet worden, aber das ist eine Falle. Ihr Ziel ist es, das Alevitentum an die Stelle des Staates, an die Stelle der Religionsbehörde Diyanet zu setzen. Die alevitischen Bektaschi-Organisationen sind dem Kulturministerium unterstellt, um die Kontrolle über die alevitische Gemeinschaft zu behalten. Wir haben jahrelang dafür gekämpft, dass das Alevitentum als Glaube anerkannt und als Lehre akzeptiert wird. Jetzt ist das Alevitentum dem Kulturministerium unterstellt, als wäre es ein kulturelles, folkloristisches Element. Die Absicht dahinter ist sehr gefährlich.
Ihre Absicht ist es, das Alevitentum von seinen historischen Wurzeln zu entfernen, es als Abteilung innerhalb der Diyanet zu positionieren, die pîr [alevitische Geistliche] wie Imame zu bezahlen und seine dynamische, moderne, unterdrückte und herausragende Rolle bei gesellschaftlichen Fragen zu eliminieren. Sie streben eine moscheeähnliche Organisation an, und sie wollen, dass die cemevi wie Moscheen an die Stelle des Staates treten und wie angestellte Beamte in den Dienst des Staates gestellt werden. Sie wollen, dass die cemevi dasselbe tun wie die Moscheen heute, egal welche Fatwa die Diyanet erlässt. Das ist eine komplette Falle.
Bis heute haben sie die Aleviten abgeschlachtet, heute schlachten sie das Alevitentum auf diese Weise ab. Das können wir als alevitische Gemeinschaft niemals akzeptieren. Während der Entstehungsphase dieser Struktur haben unsere Abgeordneten im Parlament sehr ernsthaften Widerstand geleistet. Sie wurde legalisiert, aber im kommenden parlamentarischen Prozess sollte diese Struktur definitiv abgeschafft werden. Alevitische Institutionen sollten auf einzigartige Weise behandelt werden, wenn der Staat sie als Gesprächspartner wahrnehmen will. Anstatt sie zu kontrollieren und mit einem von ihm selbst geschaffenen Kreis zu assimilieren, sollte er sie so behandeln, wie sie sind. Daher wird die Auflösung dieser Struktur einer unserer wichtigsten Kämpfe in der kommenden Zeit sein.
Wie interpretieren Sie die Sprache, die Erdoğan in Bezug auf die alevitische Gemeinschaft verwendet?
Die Feindseligkeit gegenüber den Aleviten ist in seinen Genen verankert. Dass Kılıçdaroğlu Vorsitzender der CHP ist, betrifft uns nicht direkt. Ich bin kein Mitglied dieser Partei, aber seit zwanzig Jahren greift Erdoğan Kılıçdaroğlu wegen seiner alevitischen Identität an. Er lässt Kılıçdaroğlu bei Kundgebungen wegen seiner alevitischen Identität ausbuhen. Somit ist die Alevitenfeindschaft in seinen Genen verankert. Wir sehen das Verhalten von ihm und seinen Anhängern im Zuge der Präsidentschaftswahlen. Was ist das für eine primitive Logik, dass ein Alevit in diesem Land nicht Präsident werden kann? Was für eine überholte Logik ist das? Es ist eine primitive Mentalität. Wir kennen Erdoğans Arbeit seit zwanzig Jahren. Vielleicht wissen es die jüngeren Generationen heute nicht, aber als Erdoğan 1994 Bürgermeister wurde, war das erste, was er in Istanbul tat, der Versuch, unsere Derwisch-Hütte in Karacaahmet mit Bulldozern abzureißen. Er hat also eine sehr schlechte Bilanz und niemand wird sich von seiner derzeitigen Rhetorik täuschen lassen. Ebenso wie seine Feindseligkeit gegenüber den Aleviten ist auch die Kurdenfeindschaft in Tayyip Erdoğans Genen verankert.
Sie sind im Wahlkampf tätig. Was fragen die Menschen Sie, wie empfangen sie Sie, wie ist der Puls der Region?
Ich habe einen Monat lang Wahlkampf in Europa gemacht. Es gibt kein Land in Europa, das ich nicht bereist habe. Österreich, Frankreich, Belgien, die Niederlande und viele große Städte in Deutschland… Dort geht es im Wahlkampf um Inhalte. Worin unterscheidet sich die Grüne Linkspartei von anderen Parteien? Was ist ihr Programm zu den Hauptproblemen der Türkei? Was sind ihre Lösungsvorschläge? Diese Frage wird gestellt. Darauf basiert die Politik in Europa. So etwas gibt es in der Türkei nicht. Ich bin jetzt seit einer Woche hier, und es wird nicht nach den Lösungsvorschlägen für die Hauptprobleme der Türkei wie Wirtschaft, Gesundheit, Wohnen und Ökologie gefragt. Auf der einen Seite gibt es die Verfolgung und Unterdrückung von zwanzig Jahren, und um das loszuwerden, wollen die Menschen so schnell wie möglich wählen. Das spiegelt sich noch nicht in einer normalen Wahlatmosphäre auf den Straßen wider. Wir wissen nicht, was die nächsten Tage bringen werden, aber im Moment herrscht auf den Straßen noch keine Wahlatmosphäre.
Was die Grüne Linkspartei betrifft, so können wir, da die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP und fast 10.000 unserer Freundinnen und Freunde in Gefängnissen sitzen und unsere derzeitigen Kolleginnen und Kollegen jeden Tag von Verhaftung und Repression bedroht sind, natürlich nicht den Wahlkampf führen, den wir 2015 gewohnt waren. Es wurde versucht, unsere Arme und Flügel zu brechen. Das ist gescheitert, aber jetzt findet die Kampagne unter schwierigen Bedingungen statt. Da die HDP von einem Verbot bedroht ist, ist die YSP als neue Partei der Öffentlichkeit und unseren Leuten erst seit einigen Wochen bekannt. In dieser Hinsicht herrscht im Moment Unsicherheit. Das ist eine Unsicherheit, die ich auf der Straße sehe. Ein weiterer Punkt ist, dass die Menschen in bestimmten Bereichen Reaktionen zeigen, aber es gibt auch eine Unsicherheit über die Ausrichtung dieser Reaktion auf einen gesunden Kanal.
Vor allem aber tritt die YSP in dieser Region gemeinsam mit der Arbeiterpartei der Türkei (TIP) im Rahmen des Bündnisses für Arbeit und Freiheit zu den Wahlen an. Auch das führt zu einer großen Verwirrung. Dadurch werden Stimmen verloren gehen. Wir müssen handeln, ohne die Gefahr des Aufstiegs von Tayyip Erdoğan in Istanbul in den vorangegangenen Prozessen zu vergessen, indem wir die Konkurrenz von drei Parteien beseitigen. Wir dürfen die Gefahr nicht vergessen, die der Gefahr des Aufstiegs von Melih Gökçek in Ankara ähnlich ist. In diesem Sinne, da die Partei der Grünen Linken heute die Adresse der Kräfte der Demokratie und aller unterdrückten Völker ist, sollten unsere Stimmen dort konzentriert werden.
Wer ist Turgut Öker?
Turgut Öker wurde in Sivas/Yıldızeli geboren. Er besuchte die Grundschule in seinem Dorf, die Sekundarschule in Sivas und das Gymnasium in Kartal, Istanbul. Während seiner Gymnasialzeit verbrachte er ein Jahr im Gefängnis. Im Gefängnis lernte er den kurdischen Regisseur Yılmaz Güney kennen. Seine Familie war in den 1960er Jahren nach Deutschland gezogen, und nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis kam er nach. Nach einer pädagogischen Ausbildung arbeitete er lange Zeit in Jugendzentren. Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 solidarisierte er sich aus dem Ausland mit dem revolutionären Kampf in der Türkei. Insbesondere bemühte er sich um die Solidarität mit den Gefangenen und mit Menschen, die zur medizinischen Behandlung ins Ausland gehen mussten. 1988 war er Mitbegründer des Alevitischen Kulturzentrums Hamburg. Nach dem Pogrom von Sivas gehörte er zu den Pionieren der Bemühungen, alle Aleviten in Europa unter einem Dach zu vereinen. Im Jahr 1993 wurde er Generalsekretär der Föderation der alevitischen Gemeinschaften in Europa. Später, im Jahr 1999, übernahm er den Vorsitz der Föderation der Alevitischen Gemeinschaften in Deutschland (AABF). Im Jahr 2002 gehörte er zu denjenigen, denen es gelang, alle europäischen Verbände unter dem Dach der Konföderation der europäischen alevitischen Gemeinschaften (AABK) zu vereinen, und fungierte als deren Gründungsvorsitzender. Nach einer kurzen Amtszeit als HDP-Abgeordneter im Jahr 2015 ist er seit zwei Legislaturperioden Mitglied des HDP-Vorstands und Sprecher der Kommission für Völker und Glaubensrichtungen.