Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat auf einer Pressekonferenz eine Bilanz ihrer Feststellungen zu den Erdbeben in Nordkurdistan und der Türkei im Februar veröffentlicht und die AKP/MHP-Regierung für das verheerende Ausmaß der Katastrophe verantwortlich gemacht. Vorgestellt wurden die Bilanz und die Konsequenzen, welche die HDP aus dem Erdbeben für eine neue Regierung zieht, am Donnerstag von der Ko-Parteivorsitzenden Pervin Buldan in Istanbul.
„Die Machthaber haben die Menschen mit ihrem Schicksal allein gelassen“
Buldan erklärte: „Die Wunden, die das Erdbeben gerissen hat, sind noch immer nicht verheilt, der Schmerz hat nicht nachgelassen und es ist klar geworden, dass sich das Ausmaß der Katastrophe mit Worten nicht beschreiben lässt. Wir haben Zehntausende Menschen verloren, weil keine Präventivmaßnahmen getroffen wurden. Unmittelbar nach den beiden großen Erdbeben sind wir mit unseren bevollmächtigten Ausschüssen in die betroffene Region gefahren und haben versucht, das Leid der Menschen zu lindern und die Missstände vor Ort zu beobachten. Obwohl eine lange Zeit vergangen ist, sehen wir, dass die gleichen Missstände weiter bestehen, die Wunden nicht verheilt sind und der Schmerz – von dem wir natürlich wissen, dass er nicht vergehen wird – nicht einmal ein bisschen nachgelassen hat. Die Machthaber dieses Landes haben die Menschen mit ihrem Schicksal allein gelassen. Diejenigen, die am ersten Tag nicht bei den Erdbebenopfern waren, sind jetzt vor Ort, um neue Gebäude zu errichten. Als HDP sind wir heute hier, um unsere Beobachtungen der Öffentlichkeit in der Türkei in einem Positionspapier mitzuteilen.
„Inkompetenz, Unwissenheit und Profitgier in Regierung und Verwaltung“
Am 6. Februar 2023 erlebte dieses Land eine gewaltige Verwüstung durch zwei schwere Erdbeben. Der Schmerz, verursacht durch die Erdbeben, die nach offiziellen Angaben in zehn Provinzen mehr als 50.000, tatsächlich aber viel mehr Menschen das Leben kosteten und mehr als 100.000 Menschen verletzten, mehr als 20.000 Gebäude zum Einsturz brachten und 100.000 unabhängige Wohneinheiten zerstörten, brennt weiter in unserem Herzen.
Erdbeben sind natürliche Phänomene, und an den aktiven Verwerfungslinien in Anatolien kommt es immer wieder zu zerstörerischen Erschütterungen. Die Erdbeben von 1939 (Erzingan/Erzincan), 1966 (Gumgum/Varto), 1971 (Cewlîg/Bingöl), 1975 (Licê), 1999 (Marmara), 2011 (Wan) und 2020 (Xarpêt/Elazığ) hatten dramatische Folgen. Dass trotz dieser historischen Erfahrungen Erdbeben weiterhin solch schmerzhafte Konsequenzen haben, liegt in der Inkompetenz der Politik und Verwaltung, mangelnder Voraussicht und der Verweigerung gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet.
Infolge von Bauamnestien, mit denen illegale und instabile Bauten in den letzten zehn Jahren nachträglich genehmigt wurden, und den städtebaulichen Verbrechen, die unter dem Deckmantel der Legalität begangen wurden, ist das ganze Land von einer irregulären Stadtentwicklung geprägt. Um Wählerstimmen zu gewinnen und Profit zu machen, wurden keine Kontrollen durchgeführt. Diese Tatsache weist eindeutig auf die politischen Verantwortlichen für das Ausmaß der Katastrophe und die Bauverbrechen und die Verletzung des Rechts auf Leben für die Menschen in den Städten hin.
Das jüngste Erdbeben hat deutlich gezeigt, dass die AKP/MHP-Regierung keine der dringend notwendigen Vorkehrungen getroffen hat, dass die Behörden unvorbereitet waren und dass es ein großes Organisations- und Koordinationsproblem gab.
„Der Türkische Rote Halbmond agiert als profitorientiertes Unternehmen“
Die für die Bewältigung von Naturkatastrophen verantwortliche Behörde AFAD wurde dem Innenministerium angegliedert, ihr Budget wurde auf 0,25 Prozent des Gesamthaushalts festgelegt. Das Führungspersonal der Einrichtung wurde per Vetternwirtschaft ausgewählt, der Mangel an Personal und Ausrüstung ist deutlich zutage getreten, und diese Einrichtung, deren Hauptaufgabe die Soforthilfe bei Katastrophen sein sollte, ist von der Regierung zu einem Einfallstor für Ausplünderung und Korruption gemacht worden. Der Rote Halbmond hat sich ebenfalls in ein profitorientiertes Unternehmen verwandelt, das den von der Katastrophe betroffenen Menschen die Materialien, die sie benötigt, verkauft, statt sie ihnen zur Verfügung zu stellen.
„Regierung will Solidarität zerschlagen“
In einer alptraumhaften Reaktion auf diese Situation hat die Regierung versucht, die enorme gesellschaftliche Solidarität in der Erdbebenregion zu zerschlagen. Die Versuche der lokalen Behörden, die Hilfe von politischen Parteien und Nichtregierungsorganisationen zu verhindern, haben ein exemplarisches Bild geschaffen. Die überzentralisierte Verwaltungsstruktur der Türkei wirkt sich ebenfalls negativ auf die Stadtplanungsprozesse und die wissenschaftliche und demokratische Beteiligung aus. Flächennutzungsgesetze, Bauvorschriften und Kontrollmechanismen werden nach den Bedingungen des unregulierten Marktes ausgearbeitet, fernab von einer wissenschaftlichen und öffentlichen Bewertung.
„Die AKP/MHP-Regierung ist für die Toten verantwortlich“
Nicht das Erdbeben, sondern die Regierung, die nicht die notwendigen und ausreichenden Maßnahmen gegen das Erdbeben ergriffen hat, ist für die Todesfälle verantwortlich. Die ganze Gesellschaft hat miterlebt, wie das präsidiale Regierungssystem, das angeblich die bürokratische Schwerfälligkeit durch eine Ein-Mann-Regierung beseitigen sollte, unter den Trümmern des Bebens begraben worden ist. Sie hat miterlebt, wie die Schwerfälligkeit des Zentralstaates Menschenleben kostete.
Die Notwendigkeit einer politischen Ordnung, in der die lokalen Verwaltungen stark sind und für ein sofortiges Eingreifen nicht erst auf Anweisungen aus Ankara gewartet werden muss, hat sich damit dringend gezeigt. Die derzeitige Regierung hat die Fähigkeit verloren, dauerhafte Lösungen für die Probleme zu finden.“
Die notwendigen Schritte
Buldan formulierte die notwendigen Maßnahmen, die eine neue Regierung nach den Wahlen in Bezug auf die Erdbebengebiete sofort ergreifen müsse:
„1 – Die Strafen für diejenigen, die durch ihr Verhalten in der Bau-, Genehmigungs- und Zulassungsphase hauptverantwortlich für die durch Baumängel verursachten Zerstörungen und Todesfälle sind, müssen verschärft und streng durchgesetzt werden.
2 – Zur Förderung des Bewusstseins über die Gefahr von Katastrophen sollten bereits in der Grundschule Geographie- und Geologiekurse in den Lehrplan aufgenommen werden; Schulungen zur Katastrophenvorbereitung, zum Handeln während der Katastrophe und zur Katastrophennachsorge sollten bereits in der Grundschule angeboten werden.
3 – Es ist notwendig, starke demokratische lokale Verwaltungen aufzubauen, die nicht auf die Entscheidungsprozesse eines Zentralstaats warten und in Katastrophenzeiten gemeinsam mit der Bevölkerung handeln. Lokale Selbstverwaltungen, die sich horizontal organisieren und in Abstimmung mit den zentralen Institutionen handeln, sollten die Organisierungen von Freiwilligen für den Katastrophenfall in jedem Stadtteil entsprechend den lokalen Bedürfnissen vorbereiten.
4 – Das bestehende Gesetz Nr. 4708 über die Bauaufsicht sollte aufgehoben und eine neue Regelung verabschiedet werden, und das Gesetz Nr. 3194 über die Zoneneinteilung und die damit zusammenhängenden Verordnungen sollten im Rahmen der Definition der städtebaulichen Straftaten in einer neuen Gesetzgebung harmonisiert werden.
5 – Eine planvolle und gesunde Urbanisierung muss im Einklang mit der Natur erreicht werden. Alle städtebaulichen Straftaten, insbesondere die Flächennutzungsamnestien, müssen auf der Ebene der Verfassung verurteilt werden. Das Bauen muss im Einklang mit der Flächennutzungs- und Baugesetzgebung unter Berücksichtigung des öffentlichen Interesses und dem Einbezug der Gesellschaft und Wissenschaft stattfinden. Auch das muss in der Verfassung verankert werden.
6 – Um Katastrophen in den Städten zu verhindern und ihre Schäden zu minimieren, sollte ein Ansatz des Katastrophenrisikomanagements verfolgt werden. So sollten katastrophengefährdete Regionen, insbesondere erdbebengefährdete Regionen, ermittelt und dringend Maßnahmen zur Verringerung der daraus entstehenden Risiken ergriffen werden. In allen unseren Städten, insbesondere in Istanbul, sollten umfassende Katastrophenmanagementpläne erstellt und unverzüglich Möglichkeiten zu deren Umsetzung geschaffen werden.
7 – Ein Projekt für erdbebensichere und resiliente Städte sollte angekündigt und in der nächsten Fünfjahres-Planung umgesetzt werden.
8 – Landwirtschaftliche Gebiete, Flussbetten, Küsten, Verwerfungszonen, von Erdrutschen, Lawinen und anderen Risiken bedrohte Gebiete sollten nicht zur städtebaulichen Erschließung freigegeben werden, und die bestehenden Gebiete sollten geplant geräumt werden.
9 – Das Recht auf Wohnen ist ein verfassungsmäßiges Recht und eine Pflicht des demokratischen Sozialstaates. Die Stadtplanung sollte nach wissenschaftlichen, ökologisch ausgewogenen, partizipativen, soziokulturellen, ökologischen und geologischen Kriterien von den lokalen Verwaltungen nach den Grundsätzen eines zentralen Masterplans durchgeführt werden.
10 – Die Stadt- und Raumplanung, das Flächennutzungsrecht und die Bauvorschriften im Rahmen des Konzepts des Rechts auf Stadt sollten im Lichte wissenschaftlicher Fakten in Zusammenarbeit mit den auf die Bauaufsicht spezialisierten Institutionen, den Universitäten, der Kammer der Architekten und Ingenieure (TMMOB) und ähnlichen Nichtregierungsorganisationen reorganisiert werden.
11 – Es sollte eine Bank für Katastrophen und urbane Transformation eingerichtet werden.
12 – AFAD muss unabhängig werden und die Ernennungen von Verantwortlichen sollten auf der Grundlage von Verdiensten erfolgen. Die Organisationsstruktur von AFAD sollte auf lokaler und regionaler Ebene reorganisiert werden, in den Provinzen sollten AFAD-Beiräte eingerichtet werden, an denen einschlägige Nichtregierungsorganisationen und lokale Verwaltungen beteiligt sein sollten.
13 – Der Rote Halbmond hat sein Verständnis für Hilfe für die Bevölkerung in Katastrophenzeiten verloren und ist zu einem Werkzeug der Regierung geworden. Er muss dringend von diesem Denken befreit und restrukturiert werden.
„Das ökologische Gleichgewicht muss beachtet werden“
Als HDP sind wir der Überzeugung, dass ein Zusammenleben nicht nur durch politische Überlegungen realisiert werden kann, sondern dass dabei auch das natürliche Leben und das ökologische Gleichgewicht berücksichtigen werden muss. Wir glauben, dass die aktive Beteiligung aller Einzelnen an Entscheidungsprozessen für die gesunde Verwirklichung des städtischen und kulturellen Lebens und der Kultur unerlässlich ist.
Die Bemühungen der Menschen in der Türkei, die Wunden des Erdbebens mit großer Solidarität zu heilen, haben unsere Hoffnungen auf die Zukunft geweckt, und der aufkommende gerechte Zorn auf die Regierung macht den Wunsch der Völker nach einem demokratischen Wandel deutlich. Wir wollen kein einziges Leben mehr bei Erdbeben verlieren, und wir betonen erneut, dass die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden müssen.“