Ein Leben zwischen Freundschaft, Solidarität und exquisiter Mode im letzten Sommer eines sozialistischen Landes, das es (bald) nicht mehr gibt. Ein vielschichtiger, unterhaltsamer und smarter Film.
Ostberlin, 1989: Die 18-jährige Suzie steht kurz vor ihrem Abitur und träumt davon, Literatur zu studieren. Doch dann greift die Stasi sie unvermittelt auf und stellt Bücher aus dem kapitalistischen Westen bei ihr sicher. Kurzum ist der Traum vom Studium dahin. Suzie wird in eine Ausbildung zur Facharbeiterin im Kabelwerk Oberspree gesteckt. Mehr zufällig gerät sie vor die Linse eines Modefotografen und findet sich Hals über Kopf in einer extravaganten Modewelt wieder, die sie als neues Gesicht für das Modejournal SIBYLLE entdeckt. In einem intensiven Sommer werden Freundschaft, Liebe und Solidarität zum Inbegriff von Freiheit in einem Land, das es nicht mehr gibt.
In der Geschichte von IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT steht der nahende Mauerfall, der das Schicksal der DDR besiegelte, einmal nicht im Mittelpunkt. Stattdessen erzählt Aelrun Goette in Regie und Drehbuch mitreißend und kurzweilig von einer universellen menschlichen Kraft, die dem Volk der DDR innewohnte, über den Aufbruch ins Leben und darüber, dass Freiheit erst wirklich gelebt werden kann, wenn es noch Träume gibt. Der Film feiert die Kraft der Kunst, die Stärke der Frauen und die des Individuums und reiht sich damit wohlverdient in eine Tradition aus DEFA-Spielfilmen ein wie SOLO SUNNY (1980) von Konrad Wolf und Wolfgang Kohlhaase, die fast nicht mehr zu existieren schien. Das Schauspielensemble, allen voran getragen durch die Hauptdarstellerin der Suzie, Marlene Burow, und unterstützt von bekannten Stars wie Claudia Michelsen, Sabin Tambrea oder Jördis Triebel, verkörpert den Geist der Zeit mit solcher Natürlichkeit und Detailtreue, dass der Blick in das Jahr 1989 einer Zeitreise gleicht, die seine mitreisenden Kinozuschauer:innen nur so in ihren Bann zieht. Unterstützt wird das durch eine meisterhafte Kameraarbeit, eine wundervolle Montage und einen mitreißenden Soundtrack. Letzten Endes zeichnet all das ein Bild, das einer Zeit, die geprägt ist von Zwietracht und Konflikten, universelle Werte von Freundschaft und Zusammenhalt entgegenstellt.
Jury-Begründung / Prädikat besonders wertvoll
Mit einem Statement eines Mitglieds der Jury möchte ich beginnen: „Dieser Film ist ein befreiender, beglückender und sehr differenzierter Blick über ein Land, das es so nicht mehr gibt. Aber auch eine Reise in die eigene Jugend. Und ein Film auch, der über die Härte des Alltagslebens, die Solidarität der Menschen, den großen Zusammenhalt untereinander berichtet. Und wir sehen auch die Schönheit eines Landes im Verfall“. Worte, welche die gesamte Jury in vollem Umfang bestätigen möchte. Auch wenn sich Autorin und Regisseurin Aelrun Goette aus eigener Erfahrung – ihren Namen finden wir im Nachspann unter den Models – in einem dominierenden Umfang auf einen bestimmten Bereich der international anerkannten Modeindustrie des Landes sowie einen Teilbereich der vielfältigen Subkultur (u.a. Rock-Pop-, Punker-. Queer- Szene…) in der DDR beschränkt, bekommen die im oben zitierten Statement genannten Aussagen einen gültigen Wert im Gesamtkontext des außergewöhnlich subtil inszenierten Films. Ein Film, der eine große Emotionalität ausstrahlt und vielen Zuschauer:innen eine hervorragende persönliche Identifikation ermöglicht. Das brillante Szenenbild mit einer perfekten Ausstattung – allen voran die exzellenten Kostüme und Masken – in allen Bereichen – verleiht dem Film eine authentische Stimmung. Ob dies der Blick bei den Straßenszenen auf die alten Häuser oder die Menschen an den Ecken, in den Läden, die allseits beobachtenden Stasileute in den grauen Vans ist, wie auch der Blick ins Innere, in die Wohnungen – er ist immer authentisch! Und im Innern der Häuser, der Wohnungen, öffnet sich eine Welt, die vielfach so anders war, wie die so reglementierte Welt außen und in den Betrieben. Aber auch im Arbeitsalltag sehen wir Menschen, vor allem die starken Frauen, die sich nicht dem Diktat von Planerfüllung und Regimegehorsam beugen wollten, auch wenn es auch nur im Stillen war: „Die Gedanken sind frei und singen können wir frei, wenn auch nicht alles“. Es war ein Arbeitsalltag, der mit innerer Stärke zu ertragen war. Ein großes Lob gilt dem Casting mit der gelungenen Auswahl der Protagonist:innen und ihrem überzeugenden Spiel unter sicher Führung der Regie. Dies gilt im Besonderen der wandlungsfähigen Marlene Burow als Suzie, die sich in nur wenigen Monaten von einem träumerischen Mädchen mit dem Herzenswunsch eines Literaturstudiums zur reifen Frau wandelt, die sich auch dem Druck der Obrigkeit zu widersetzen vermag. David Schütter spielt ausgezeichnet den Freigeist und Rebellen Coyote, immer im Bestreben, Suzie den Weg ins eigene und vielleicht auch gemeinsame Leben aufzuzeigen: „Du darfst die nie darüber entscheiden lassen, wer Du bist“ oder „Was ist es Dir wert, Deinen Traum zu leben?“ oder: „Angst brauchst Du nicht zu haben – was kann uns schon passieren, wir haben uns“ oder: „Entweder Du bist frei, dann bist Du es überall!“ Und Suzie begreift genau das, auch durch einen Brief an die Mutter, die es nicht mehr gibt, und deren Ratschlag „Nur wenn wir träumen, sind wir frei“, den sie verinnerlicht hat. Sabin Tambrea als Rudi ist absolut ergreifend, wie auch Claudia Michelsen an der Spitze des Mode- Labels, die im ständigen Konflikt der Beobachtung durch die „Führung“ und der im Innern versteckten Menschlichkeit stehen. Überzeugen können auch Jördis Triebel als Gisela, die für Suzie eine Art Mutterersatz im Berufsalltag darstellt. Und noch ein Lob für die Besetzung von Suzies kleiner Schwester Kerstin mit Zoé Höche, Suzies oftmals einziger Halt in der Familie. Es ist ein Genuss zu erleben, wie selbstbewusst und neunmalklug frech die Kleine mit ihrer „Russenkappe“ auftritt. Kommen wir zu weiteren entscheidenden handwerklichen Positionen des Films: Aelrun Goette schuf ein Drehbuch zu ihrem Film, welches nur das höchste Prädikat verdient, vor allem auch wegen den großartigen Dialogpartien, die den Film so spannend und glaubhaft authentisch machen. Und dann die ebenso hervorragende Bildgestaltung von Benedict Neuenfels, die Musik von Boris Bojadzhiev und die stimmige Montage. Insgesamt ist dieser Film ein herausragendes Kunstwerk, dem die Jury bestmöglichen Erfolg wünscht, ein großes und sicher hoch interessiertes Publikum zu finden. Sehr gerne verleiht sie das höchste Prädikat.
Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) / 13.03.2023
Foto: FBW