Einen Monat nach der Erdbebenkatastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet kommen durch die Trümmerbeseitigung neue gesundheitliche und andere Probleme auf die Menschen in der betroffenen Region zu. In Hatay haben die Aufräumarbeiten zwanzig Tage nach dem Erdbeben begonnen. Der türkische Staat ignoriert die Empfehlungen von Gesundheitsorganisationen, die wiederholt auf mögliche Gesundheitsprobleme während der Trümmerbeseitigung hingewiesen haben. Weil keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden und planlos vorgegangen wird, sind die Ortschaften in eine Staubwolke gehüllt.
Melis Tantan von der Koordinationsstelle für Klima und Gerechtigkeit befürchtet, dass die Staubwolken bleibende Gesundheitsschäden verursachen: „Es ist eigentlich ein Verbrechen. Es ist ein Verbrechen, das die Gesundheit der Bevölkerung und aller Lebewesen beeinträchtigt. Außerdem ist es mit weiteren Straftaten verbunden. Bei der Räumung muss es bestimmte Ablagerungsbereiche für die Trümmer geben. Bei der Festlegung dieser Stellen wird jedoch eine Straftat begangen, denn die meisten dieser Bereiche sind eigentlich Bachbetten. Die Orte, an die der Schutt gebracht wird, sind auch Tatorte. Diejenigen, die dafür verantwortlich sind, begehen eine Straftat. Indem sie diese Dinge tun und keine Vorsichtsmaßnahmen treffen, begehen sie eigentlich den Straftatbestand des versuchten Mordes. Es handelt sich hier um ein Seriendelikt.“
Fehlende Planung in jeder Phase
Tantan stellt fest, dass es eine staatliche Politik war, mit den Abrissarbeiten so schnell wie möglich zu beginnen, und definiert das Vorgehen wie folgt: „Die Dringlichkeit, den Schutt so schnell wie möglich zu beseitigen, führt hier zu einer großen Zerstörung. Dieser Mangel an Planung begann schon vor dem Erdbeben, setzte sich danach bei den Rettungsarbeiten und der Versorgung der Erdbebenopfer fort und geht jetzt während der Räumung weiter. Die Planlosigkeit wird sich auch beim Wiederaufbau fortsetzen. Es gibt eine Kette von Unplanmäßigkeiten. Es mangelt in jeder Phase an Planung.“
Die Auswirkungen werden Generationen überdauern
Die fehlende Planung stelle ein Problem für die öffentliche Gesundheit dar, sagt Tantan. Es hätten Umweltorganisationen, Fachleute für Asbestentsorgung, Nichtregierungsorganisationen, Arbeits- und Berufsverbände konsultiert werden müssen, was aber nicht geschehen sei. „Asbest wirkt über Generationen hinweg, es ist keine Wirkung, die von heute auf morgen eintritt. Man kann es im Staub nicht sehen, es gibt nichts Spezifisches, es ist wie eine versteckte Krankheit. Die Auswirkungen werden erst Jahre später zutage treten. Auch Mediziner sprechen von einem Krebsrisiko, und wer weiß, was wir hier einatmen. Es gibt ja nicht nur Asbest, sondern es wurden auch andere giftige Stoffe freigesetzt. Alle hier lebenden Einheimischen und die Freiwilligen, die seit dem Erdbeben hier sind, sind dem Risiko von Lungenkrebs ausgesetzt. Ein Monat ist vergangen, einen Monat lang haben die Menschen diesen Staub, dieses Gift eingeatmet. Jahre später werden wir die Spuren sehen, wenn alle an Lungenkrebs erkrankt sind.“