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Der vermessene Mensch

Kino

Der vermessene Mensch

Lars Kraumes neuer Film nähert sich mit kritischer Distanz einem hochrelevanten und bisher wenig aufgearbeiteten Thema aus der afrikanisch-deutschen Geschichte und erzählt vom Völkermord der Deutschen an den afrikanischen Völkern der Ovaherero und Nama.

Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts: Der ehrgeizige Ethnologie-Doktorand Alexander Hoffmann ist Teil einer Studiengruppe, die für die „Deutsche Kolonial-Ausstellung“ eine Gruppe von Stammesangehörigen der Ovaherero und Nama untersuchen und deren Schädel „vermessen“ soll. Mit den Forschungsergebnissen möchte Hoffmanns Professor wissenschaftliche Daten erheben, die die gängigen Rassentheorien der Zeit untermauern. Doch Hoffmann lernt Kezia, eine Herero, näher kennen und beginnt an der Theorie zu zweifeln. Als sich kurze Zeit später die Ovaherero und Nama in Namibia gegen die deutschen Kolonialisten erheben, meldet sich Hoffmann freiwillig zu einer Forschungsexpedition, auch um Kezia wiederzusehen. Doch in Namibia angekommen, wird Hoffmann direkter Zeuge des Völkermords. Eine grausame Tatsache, die auch ihn nötigt, Stellung zu beziehen.

Mit seinem Film DER VERMESSENE MENSCH widmet sich der Regisseur und Autor Lars Kraume einem Kapitel der afrikanisch-deutschen Geschichte, das erst im Jahr 2015 durch die Bundesregierung als Völkermord klar benannt wurde: Den Greueltaten an den Ovaherero und Nama Ende des 19. Jahrhundert. Kraume erzählt die Geschichte aus der Perspektive eines opportunistischen Wissenschaftlers, der hin- und hergerissen ist zwischen seinem persönlichen Ehrgeiz und seinem Forscherdrang, welcher ihn an gängigen Denkmodellen zweifeln lässt. Leonard Scheicher verkörpert diesen Zwiespalt überzeugend und stellt Hoffmann in seiner Ambivalenz und seiner offensichtlichen Charakterschwäche als Antiheld dar, dessen Motivation man klar verurteilen muss, vor allem, weil er wider besseres Wissen eine rassistische Haltung unterstützt. Der kritische Blick von Kraume erlaubt es, die Geschehnisse von vor einem Jahrhundert mit Distanz zu betrachten und dennoch Schlüsse zu dem weiteren Verlauf deutscher Geschichte zu ziehen. Das Verfolgen und Töten von Völkern, das Erheben über Andere, das Herrschaftsdenken aufgrund einer Hautfarbe, Religion oder Kultur: DER VERMESSENE MENSCH verhandelt diese Aspekte mit kluger Ernsthaftigkeit. Er ist so auch ein wichtiger Beitrag zu aktuell hochrelevanten Diskussionen, die der Film bereichern kann. Bei der Dramaturgie geht es Kraume nicht um Elemente eines Abenteuerfilms, bei den Bildern der Kamera nicht um Effekthascherei. Dennoch gelingt den Macher:innen packendes und hochrelevantes Erzählkino, dass sich einem Kapitel unserer Geschichte respektvoll-kritisch annähert.

Jury-Begründung / Prädikat besonders wertvoll

Die Jury hat sich gleich zu Beginn der Diskussion mit der Frage beschäftigt, inwieweit der Blickwinkel auf die deutsche Kolonialzeit mit ihren Verbrechen unter heutigen Gesichtspunkten angemessen sein kann.

Hierzu gab es eine große Übereinstimmung, dass, gerade weil der Film konsequent mit dem jungen Ethnologen Alexander Hoffmann den europäischen und damit kolonialistischen Blickwinkel einnimmt, der Gegenblick der Hereros und Nama nicht vernachlässigt wird, sondern tatsächlich nicht das Thema des Films ist. Vielmehr eröffnet DER VERMESSENE MENSCH die viel direktere Kritik und Auseinandersetzung mit rassistischem Denken vom 19. Jahrhundert bis in den Vorabend der Nazidiktatur hinein. Ein Film aus Sicht der Genozid-Opfer und die Beleuchtung der südwestafrikanischen schwarzen Bevölkerung und deren Kultur führten definitiv zu einem ebenfalls wichtigen, aber eben anderem Film.

Die Jury war der Ansicht, dass es Lars Kraume trotz der Schilderung aus weißer Perspektive darüber hinaus gelungen ist, dem unfassbaren Grauen insbesondere des kolonialen Vernichtungskrieg gegen die Hereros und Nama in Bildern Ausdruck zu verleihen. In sicher nachhaltiger Erinnerung bleiben beispielsweise die Bilder gegen Ende, die das Vorbereiten der Köpfe hingerichteter Herero für den Abtransport in ethnologische und anthropologische Staatssammlungen in Berlin zeigen. Die zweite Hauptdarstellerin des Films – die Schwarze Girley Charlene Jazama als Kezia – wird hier eine zentrale Rolle spielen.

Neben der schonungslosen Darstellung von Massakern und Massenmord tritt aber auch die große Würde in Erscheinung, die Kraume in seiner Darstellung Vertretern der Herero verleiht. Das ist für die Jury exemplarisch in einer Szene besonders gelungen: Als eine Gruppe von Herero in einer Völkerschau in Berlin als ‚Wilde‘ gezeigt wird, besucht sie abends der junge Ethnologe Hoffmann in ihrer Unterkunft. Er, der selbst , so wie er im Film sagt, nicht an das rassistische Menschenbild von weißer Herrenrasse und ‚Wilden‘ glaubt, sondern aufklärerisch ‚im Geiste Humboldts‘ nur an kulturelle Unterschiede, verfällt automatisch in die Rolle des Fordernden (‚wissenschaftliche Fragen stellen‘). Sofort weist ihn elegant und selbstbewusst die schwarze Dolmetscherin Kezia darauf hin, dass er hier unter den – übrigens europäisch gekleideten – Herero nicht Herr, sondern Gast sei, und nur auf dieser Ebene sei eine Kommunikation überhaupt möglich. Er wird aber – und hier erreicht der Film eine weitere wunderbare Vielschichtigkeit – zum selbstverständlich gespielten, europäischen Kartenspiel ‚Siebzehn und Vier‘ eingeladen.

Eine der frühen Hauptszenen des Films ist die Schädelvermessung der als Delegation angekommen Herero in Berlin durch Ethnologiestudenten. In dieser Szene mischen sich die Vermessenheit des europäischen Überlegenheitsdenkens, völlige Insensibilität, Demütigung – und im Falle Alexander Hoffmanns auch erotisches Begehren gegenüber Kezia. Auch diese Szene ist meisterhaft aufgebaut, um das komplexe Thema komprimiert einzufangen.

Gelobt werden muss auch der Mut, in Alexander Hoffmann einen jungen idealistischen Menschen als Hauptfigur zu haben, der zunehmend selbst Blut an den Händen hat und dessen Ehrgeiz und Desillusionierung ihn wider besseren Wissen zum charakterlosen Opportunisten des rassistischen Zeitgeists machen. Es ist – neben der rassistischen Gewalt – diese Abwärtsbewegung, die den Zuschauer tief erschüttert und zum Nachdenken zwingt. Dass Zeitsprünge des Films von 1896 über den Schwerpunkt des kolonialen Vernichtungskrieges 1906 bis einem kurzen Schlussausblick in die 1920er Jahre führen, weist als weiterführender Aspekt auf den folgenden Holocaust hin und lässt die Linie weiterdenken bis in unsere Gegenwart: Zu Fragen der Rückgabe von kolonialer Beutekunst und Kulturgegenständen bis hin zu Schädeln und Skeletten aus ethnologischen Sammlungen, um sie – ein weiteres Thema des Filmes – den Riten entsprechend zu bestatten und Würde und religiöse Heimat zurückzugeben.

Bei aller inhaltlichen Auseinandersetzung ist nach Meinung der Jury den Filmemachern um Lars Kraume auch handwerklich und künstlerisch ein guter Film gelungen. Die Filmmusik ist unaufdringlich intensiv, die Ausstattung detailliert gelungen und der Cast treffend:

Angefangen von Leonard Scheicher als eigentlich sensibler, feingliedriger Ethnologe Alexander Hoffmann über Girley Charlene Jazama, die der Figur der Kezia alle Facetten von Würde bis zur völligen inneren Zerstörung und Zerrüttung geben kann bis hin zu den Nebenfiguren wie Peter Simonischek als Professor, der in den Zynismus abwandert und glaubt, als Wissenschaftler eine weiße Weste behalten zu können oder Alexander Radszun als General Lothar von Trotha, Inbegriff eines Militärs, der ohne spürbare menschliche Regung einen unfassbar schmutzigen Krieg führt.

Einzig dem Film selbst hätte die Jury ein etwas höheres Budget gewünscht, um Massenszenen mit mehr Komparsen gewaltiger in Szene setzen zu können.

In Abwägung aller Argumente erteilt die Jury dem Film das höchste Prädikat BESONDERS WERVOLL.

Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) / 21.03.2023

Foto: FBW

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