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Tár

Kino

Tár

Cate Blanchett in einer Paraderolle als charismatische Chefdirigentin, die mit scharfem Intellekt und elegantem Auftritt fasziniert und gleichzeitig mit ihrer Kompromisslosigkeit auch schockiert.

Schon der Filmeinstieg in TÁR ist von Autor und Regisseur Todd Field klug gewählt. Lydia Tár, erste weibliche Chefdirigentin eines großen deutschen Orchesters, betritt die Bühne eines vollbesetzten Theatersaals. Ein Auftritt mit Grandezza. Das Interview, das sie vor dem andächtigen Publikum gibt, ihre kühl berechnende, unnahbare Souveränität und Schlagfertigkeit setzen von nun an den Ton für die nächsten 158 Minuten. Lydia ist Vollblut-Künstlerin, die ihre ganze Energie in den Dienst des göttlichen Musikalischen stellt und für ihre Ideale kämpft. Mit ihrer kompromisslosen Art begeht sie dabei permanent Grenzüberschreitungen, die ihr zunehmend zum Verhängnis werden.

TÁR ist exzellente Filmkunst mit einem smart komponierten Look, starken Bildern, hervorragendem Licht, grandios eingesetzter Musik und einer Besetzung, die in allen Rollen herausragend ist. Die Themen Wokeness, Gender und Me Too werden dabei intelligent in die Lebensumstände der Charaktere verwoben und eröffnen mit ebenso vielschichtigen darstellerischen Leistungen wie die der Lebensgefährtin Társ, brillant gespielt von Nina Hoss, neue Perspektiven. Dabei ist besonders reizvoll, dass die Zuschauenden stets im Unklaren gelassen werden, ob Lydia Tár selbst Täterin ist oder Intrigen – von Männern und Frauen gleichermaßen – zum Opfer fällt. TÁR fasziniert auch als Abbild der Kunstwelt mit seinen individuellen Befindlichkeiten, Eitelkeiten und unerbittlichen Machtstrukturen. Ein epochales Drama mit einer fulminant aufspielenden Cate Blanchett, die für diese Glanzrolle ganz zu Recht für den Oscar nominiert wurde.

Jury-Begründung / Prädikat besonders wertvoll

Müsste man sich bei TÁR für eine Sache entscheiden, die für die Ewigkeit bleiben soll, dann wäre es fraglos die Leistung der Hauptdarstellerin Cate Blanchett. Wie sie elegant und brüskierend zugleich die Dirigentin Lydia Tár verkörpert, die Musikalität der Darbietung, ist für sich alleine gesehen schon auszeichnungswürdig.

Aber zum Glück muss man sich ja nicht entscheiden, Film ist bekanntermaßen das Zusammenspiel von vielen Gewerken und Sinneseindrücken. Und mit 158 Minuten gibt uns TÁR genug Zeit, darin zu schwelgen. In der ganz auf die Hauptfigur ausgerichteten Kamera, dem malerischen Licht, dem Schnitt, der sich wie eine Partitur von Takt zu Takt bewegt, dem Kostümbild, das jede einzelne Figur in ihrer Charakterisierung unterstreicht ohne aufgesetzt zu wirken, der fantastischen Besetzung bis in die Nebenfiguren (ganz besonders seien hier Nina Hoss und Noémie Merlant erwähnt). Und natürlich die Musik, die als weitere Hauptfigur in Szene gesetzt wird.

Im Zentrum des Filmes von Todd Field steht die titelgebende Heldin, oder eben Antiheldin. Da sollte man sich nicht zu sicher sein. Die Geschichte wird streng aus Lydias Perspektive erzählt, wir sehen nur, was sie sieht. Flashbacks gibt es gar nicht, Backstorys muss man sich aus Gesprächsfetzen zusammenreimen, doch die sind unvollständig, subjektiv. Die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verschwimmen in dieser Parabel auf Macht und ihren Missbrauch, die sonst eher männlichen Figuren vorbehalten ist.

Lydia, die ein komplett auf ihre Arbeit als Dirigentin und Komponistin ausgerichtetes Leben führt, ist kurz davor ihr großes Werk – eine komplette Aufnahme aller Mahler-Symphonien mit den Berliner Philharmonikern – zu vollenden. Es fehlt nur noch eine, die für Lydia zentrale Symphonie. Die Proben sind hart, das Geschäft der klassischen Musik ist es auch. Lydia geht kompromisslos ihren Weg. Geht es nicht um etwas größeres, etwas „göttliches“, wie Lydia in einer Buchlesung sagen wird. Rechtfertigt dies alle Mittel?

In einer phänomenalen Plansequenz, in der wir in Echtzeit Zeug:innen werden von einer Unterrichtseinheit Lydias an dem Juilliard-Konservatorium in New York, sehen wir sie als strenge Lehrende, die ausspricht, was sie denkt und damit provoziert. Auch durch das Überschreiten von Gender-Grenzen. Sie verweigert sich der Ansprache als Maestra, nur weil sie eine Frau ist. Im Privatleben bezeichnet sie sich als Vater für das Kind, das sie gemeinsam mit ihrer Partnerin Sharon (Nina Hoss) groß zieht.

Verzeiht man anfänglich Lydia so manchen spitzen Kommentar zu Konkurrent:innen, die harten Entscheidungen, die das Business eben mit sich bringt. Man lässt sich von ihrem Charisma und Genius verführen. So kommt es überraschend im Privaten zum ersten Grenzübertritt, der einen stutzen lässt: Nachdem eine Mitschülerin ihr Kind geärgert hat, passt Lydia das etwa 8-jährige Mädchen auf dem Schulhof ab und bedroht es („Niemand wird dir glauben, denn ich bin die Erwachsene.“). Wenig später erfahren wir mehr über eine Studentin, die Lydia scheinbar aus dem Musikgeschäft gedrängt und die nun Selbstmord begangen hat.

Lydia, die weiter fast manisch an ihrer Arbeit festhält, verliert zunehmend den Boden unter den Füßen, hört merkwürdige Geräusche, erlebt Traumsequenzen. Sie wird final einer Intrige zum Opfer fallen, von der bis zum Ende unklar ist, wer diese gesponnen hat, oder ob Lydia doch die Schuldige in dem Spiel ist. Wir als Zeug:innen gehen diesen Weg mit ihr, nie sicher, was man nun glauben kann oder auf welche Seite der Macht es sich zu schlagen gilt.

Die FBW-Jury zeichnet dieses Spiel aus Betrug und Verführung mit dem Prädikat BESONDERS WERTVOLL aus.

Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) / 27.02.2023

Bildschirmfoto: FBW

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