Wegen ihrer Tätigkeit als Medienschaffende müssen sich elf kurdische Journalistinnen und Journalisten ab Mai vor Gericht verantworten. In der am Donnerstag von der 4. großen Strafkammer von Ankara angenommenen Anklageschrift werden die Angeklagten des „Terrorismus“ verdächtigt. Konkret wird ihnen zur Last gelegt, sich mitgliedschaftlich an der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) betätigt zu haben. Die Oberstaatsanwaltschaft plädiert für ein Strafmaß im oberen Bereich und fordert eine Verurteilung nach Artikel 314/1 des türkischen Strafgesetzbuches, der eine Höchststrafe von 15 Jahren Gefängnis vorsieht. Die Eröffnung des Prozesses wurde auf den 16. Mai terminiert.
Neun der Angeklagten seit Oktober in Untersuchungshaft
Bei den Angeklagten des Verfahrens handelt es sich um führende Medienschaffende in der Tradition der freien kurdischen Presse, neun von ihnen befinden sich seit Oktober in Untersuchungshaft: Die Chefredakteurin der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA), Diren Yurtsever, die MA-Korrespondent:innen Deniz Nazlım, Selman Güzelyüz, Berivan Altan, Hakan Yalçın, Emrullah Acar und Ceylan Şahinli sowie die JinNews-Korrespondentinnen Habibe Eren und Öznur Değer. Ein Antrag auf Entlassung aus der Untersuchungshaft, den Rechtsanwalt Resul Temur zeitgleich zur Annahme der Anklageschrift einreichte, wurde noch am selben Tag wegen angeblicher Fluchtgefahr negativ beschieden. Die im gleichen Verfahren festgenommene MA-Reporterin Zemo Ağgöz ist im Mutterschutz und war bereits zuvor freigelassen worden. Gegen den ehemaligen MA-Praktikanten Mehmet Günhan hatte das Gericht Meldeauflagen verhängt, er ist ebenfalls auf freiem Fuß.
Beweismittel: Beschlagnahmte Speichermedien und Abhörprotokolle
Die Anklageschrift in dem Verfahren ist 210 Seiten lang und enthält hauptsächlich von MA veröffentlichte Meldungen. Zwölf Seiten sind Ausführungen zur PKK und ihres Dachverbands, der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) gewidmet. Als Beweismittel werden beschlagnahmte Speichermedien und Abhörprotokolle vorgelegt. Demnach wurde die Kommunikation der Angeklagten im Zeitraum zwischen Februar und September 2021 überwacht. Zudem wird die Aussage eines geheim gehaltenen Zeugen mit der Codierung „k8ç4b3l1t5” aufgeführt. Die Aussage besagt jedoch lediglich, dass die Beschuldigten für MA und JinNews gearbeitet haben.
CPJ: Terrorvorwurf als Vergeltung für kritische Berichterstattung
„Absurd und genauso wie Kafka es dargestellt hat, klingt die Anklageschrift. Vollkommen kafkaesk“, kommentierte die MA-Redaktion die Vorwürfe gegen ihre Belegschaftsmitglieder. Dass es überhaupt zu dem Prozess kommt, stehe symptomatisch für den Umgang der Regierung und Justiz mit kritischen Medienschaffenden und für den Stellenwert der Grundrechte in der Türkei. Auch das in den USA ansässige Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) kritisiert das Verfahren. Der Prozess reihe sich ein in eine lange Reihe von Unterdrückungsversuchen und der Standardvorwurf des „Terrorismus“ werde als offensichtliche Vergeltung für kritische Berichterstattung erhoben, sagte CPJ-Programmdirektor Carlos Martinez de la Serna in New York. „Die Behörden sollten solche Anklagen fallen lassen, alle Journalisten, die wegen ihrer Arbeit inhaftiert sind, freilassen und der Gleichsetzung von Journalismus und Terrorismus ein Ende setzen“, fordert de la Serna.
Türkei – größtes Gefängnis für Journalist:innen
Die Türkei gehört weltweit zu den repressivsten Staaten gegenüber Medienschaffenden. Der in Amed (tr. Diyarbakır) ansässige Journalistenverein Tigris-Euphrat (Dicle Fırat Gazeteciler Derneği, kurz: DFG) wies in seinem letzten Bericht zum Zustand der Pressefreiheit in der Türkei darauf hin, dass sich derzeit mindestens 87 Medienschaffende (Stand 1. Februar 2023) in türkischen Gefängnissen befinden.