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Die Aussprache

Kino

Die Aussprache

Intensives Kammerspiel über Mut und Verzweiflung im Streben nach Freiheit von Frauen in einer mennonitischen Religionsgemeinschaft.

Abgeschirmt von der Außenwelt lebt eine mennonitische Glaubensgemeinschaft nach strengen patriarchischen Regeln. Frauen erhalten nur rudimentär Bildung, können weder Lesen, noch Schreiben und sind Übergriffen der Männer schutzlos ausgeliefert. Als diese Überhand nehmen, stellen die Frauen ihre Lebensrealität in Frage und müssen sich darüber klar werden, ob sie für ihre Rechte kämpfen wollen oder die Gemeinschaft zum Selbstschutz für immer verlassen.

Als feinfühlig nuanciertes, wie kraftvolles Drama über die Emanzipation von Frauen, wird DIE AUSSPRACHE zum Zeugnis der Willensstärke ebendieser. Besonders dramatisch ist die Situation auch deswegen, weil es sich nicht nur um eine Generation von Frauen in der Gemeinschaft handelt, sondern um ein Szenario der Unterdrückung, angefangen bei der Großmutter bis hin zur Enkeltochter, das letztendlich zum Handeln zwingt. Ohne Umschweife führt Sarah Polley mit ihrem Film in die Umstände der Frauen in der Gemeinschaft ein, ohne dabei explizite Bilder bemühen zu müssen. Die Gesichter der Frauen und ihr aufkeimendes Streben nach Freiheit sagen mehr als tausend Worte. Das Kammerspiel lebt dabei von den exzellenten darstellerischen Leistungen seiner Hauptdarstellerinnen, allen voran Claire Foy als Salome, Jessie Buckley als Mariche und Rooney Mara als Ona, die in der Auseinandersetzung was zu tun wäre, jede für sich nachvollziehbare Beweggründe und Argumentationsketten beweisen. Statt Entwicklung einzelner Figuren liegt der Fokus aber auf der Gemeinschaft der Frauen, die über den Dialog zu einem unumstößlichen Schluss gelangen. Die Entscheidungsfindung wird zum Dreh- und Angelpunkt der Erzählung, auch unterstrichen durch die fabelhaft komponierte Kameraarbeit von Luc Montpellier. Die Enge der Scheune als Handlungsort mit entsättigten Bildern und endlose Landschaften als Rahmung des Geschehens verdeutlichen die Last auf den Schultern der Protagonistinnen und ihre schiere Ausweglosigkeit. Ein herausragendes Filmwerk zum Mitfiebern, das ohne große Effekte die Unsicherheiten und Hürden einer sich emanzipierenden Gesellschaft auf der Schwelle zwischen Bleiben, Kämpfen oder Gehen verdeutlicht.

Jury-Begründung / Prädikat besonders wertvoll

Erst spät in der Geschichte wird klar, dass wir uns im Jahr 2010 befinden. So seltsam entrückt, konserviert in der Zeit wirkt die Geschichte, die Sarah Polley auf dem Heuboden einer Scheune im ländlichen Amerika erzählt. Und dies ist letztlich das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen: Basierend auf wahren Begebenheiten, geschildert in einem Roman von Miriam Toews, erzählt DIE AUSSPRACHE (viel treffender der englische Titel WOMEN TALKING) von einer mennonitischen Glaubensgemeinschaft, streng genommen den Frauen, die einer Welle von sexueller Gewalt ausgesetzt sind und deshalb eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen haben. Religiöse Ideale prallen auf den Wunsch nach einem Leben in Freiheit und Sicherheit. Es gelingt ein filmisches Plädoyer für Gleichberechtigung und Demokratie.

Alles an der Inszenierung und filmischen Gestaltung (hier besonders Kostüm, Ausstattung und Musik) wirkt unaufgeregt, dabei leisten die starken Frauenfiguren Übermenschliches. Durch den Verzicht auf jegliche Form von Effekthascherei rückt die Inszenierung ins emotionale Zentrum der Geschichte. Der Fokus liegt komplett auf den Darstellerinnen und der Geschichte ihrer Figuren. Ohne zusätzliche Dramatisierung erfährt der Zuschauende erst nach und nach die Zusammenhänge, die meiste Zeit ist man auf besagtem Heuböden dabei und wird Zeug:in einer hitzigen Diskussion. Ein Kammerspiel, aus dem es am Ende auszubrechen gilt, nimmt seinen Lauf und macht uns zu Kompliz:innen. Mit viel Respekt für die emotionale Situation der Figuren und Feingefühl für das, was man sehen muss und das, was lieber verborgen bleibt. Hier spielt sicher die weibliche Regie eine große Rolle. So bleiben die Vergewaltigungen ungesehen, Grauen und Leid sind ohnehin unaussprechlich – und sollen der Vergangenheit angehören. So beschließt es das Komitee aus gewählten Frauen. Ein mutiger Akt der Emanzipation, des female Empowerment, das heutiger nicht sein könnte.

Eine besondere Rolle kommt dem einzigen Mann, dem Lehrer August (Ben Whishaw) zu. Er führt das Protokoll, ist anfangs stiller Beobachter, später einziger Verbündeter der rechtlosen Frauen in der abgeschiedenen Glaubensgemeinschaft. Er verkörpert die Dualität der Opfer-Täter-Beziehung, die Perversion des Systems an Unterdrückung und Machtmissbrauch, ohne aber jemals in die Perspektive der Männer zu wechseln. Die Haltung des Filmes ist hier ganz klar: Es gibt keine Entschuldigung. Andere Dinge bleiben mysteriös, was der Film aber bedenkenlos aushält: Welche Rolle spielte August bei den Übergriffen und wer ist eigentlich unsere namenlose Erzählerin?

DIE AUSSPRACHE richtet sich in seiner Machart fraglos an ein Arthouse-Publikum, das willens ist, sich der anschließenden Diskussion zu stellen. So laden gleichsam religiöse Aspekte wie demokratische Prinzipien zu einer Auseinandersetzung ein.

Die FBW-Jury zeichnet Sarah Polleys DIE AUSSPRACHE mit dem Prädikat BESONDERS WERTVOLL aus.

Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) / 07.02.2023

Bildschirmfoto: FBW

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