Beim Ausschuss für Verfassung und Justiz im türkischen Parlament sind Präsidialanträge zur Aufhebung der Immunität von Abgeordneten eingegangen. Die Forderung der Aberkennung des Abgeordnetenstatus betrifft 18 Parlamentsmitglieder von drei verschiedenen Parteien. Der Schritt richtet sich jedoch in erster Linie gegen die HDP-Fraktion.
Vier der Anträge betreffen den HDP-Abgeordneten Sezai Temelli, jeweils zwei liegen gegen die Ko-Vorsitzende Pervin Buldan sowie Tayip Temel, Gülistan Kılıç Koçyiğit und Berdan Öztürk vor. Im Fall von Murat Sarısaç, Kemal Bülbül, Murat Çepni, Ömer Öcalan, Nuran Imir, Ebru Günay, Ümit Dikbayır, Sait Dede, Ömer Faruk Gergerlioğlu, Ahmet Çelik und Mehmet Rüştü Tiryaki wurde je ein Antrag zum Immunitätsentzug eingereicht, selbes gilt für Gürsel Tekin von der CHP. Weitere zwei Anträge richten sich gegen die Ko-Vorsitzende der HDP-Schwesterpartei DBP, Saliha Aydeniz.
Alle Anträge wurden aus dem Präsidialbüro von Recep Tayyip Erdogan verschickt. Vordergründig gleicht das Vorgehen einer Abstrafung und weiteren Kriminalisierung der HDP und DBP. Grundlage sind pauschale Vorwürfe einer angeblichen öffentlichen Parteinahme für die PKK, die sich hauptsächlich aus politischen Äußerungen zusammensetzen, die selbst nach türkischem Rechtsverständnis von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Gegen die HDP ist außerdem ein Verbotsverfahren beim türkischen Verfassungsgericht anhängig. Mit einer Entscheidung wird noch vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai gerechnet.
Inflationär benutztes Mittel zur Ausschaltung der Opposition
Die Aufhebung der Immunität mit dem Ziel der anschließenden Inhaftierung von oppositionellen Abgeordneten stellt ein vom türkischen Staat in den letzten Jahren inflationär benutztes Mittel zur Ausschaltung jeglichem politischen Dissens dar. Fast im Wochentakt werden entsprechende Anträge von der Oberstaatsanwaltschaft Ankara, aber auch durch das Präsidialbüro Erdogans, beim Parlament eingereicht.
EGMR: Immunitätsentzug bedeutet Unterdrückung von Pluralismus
Ende November lagen mehr als 2.000 Anträge für Mandatsentzügezur Entscheidung in der türkischen Nationalversammlung. Über 1.500 betreffen Abgeordnete der HDP und DBP. Einige Politikerinnen und Politiker der HDP-Fraktion werden in verschiedenen Anträgen sogar beschuldigt, Mitglied einer „bewaffneten und terroristischen“ Organisation zu sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Hinblick auf bereits erfolgte Fälle von Immunitätsentzug von HDP-Abgeordneten in mehreren Urteilen entschieden, dass dieses Vorgehen des türkischen Staates den konkreten Zweck hat, Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken.