Ein unterhaltsames, prickelnd-erfrischendes Pas-de-Deux zweier wunderbarer Charaktere. Dieser Film macht glücklich.
Es sollte eigentlich nur um Sex gehen. Doch als die pensionierte Lehrerin Nancy den jüngeren Sexarbeiter Leo auf ein Hotelzimmer bestellt, um nach ihrer eher nüchternen Ehe endlich mal zu erfahren, dass miteinander schlafen auch Spaß machen kann, lernen sich die beiden Fremden immer besser kennen. Und der Sex wird bald zur Nebensache. Wenn auch zur schönsten Nebensache der Welt. Emma Thompson und Daryl McCormack lassen in diesem humorig-feinfühlig erzählten Kammerspiel mit ihrer Chemie die Leinwand auf zauberhafte Weise erstrahlen.
Regisseurin Sophie Hyde und ihre Drehbuchautorin Katy Brand erzählen die ungewöhnliche Beziehung, die sich so wunderbar bekannten Schemata widersetzt, wie ein Kammerspiel oder Theaterstück. Dabei setzt der Film völlig zurecht seinen Fokus auf das Miteinander von Thompson und McCormack, deren Chemie entscheidend ist für das Funktionieren der Geschichte. Die Ausgangssituation sowie die Gespräche der Beiden sind übervoll an Dialogwitz und amüsanten Annäherungsmissverständnissen. Doch je näher sich Nancy und Leo kommen, desto mehr Tiefe gewinnen die Gespräche, desto mehr taucht man ein in zwei Leben, die jedes für sich faszinierend und vielschichtig erscheint. Die Rolle des Sexarbeiters, der hinter der immer coolen und so sympathischen Fassade ein weiteres, ein privates Wesen verbirgt, verkörpert Daryl McCormack mit einem so großen Charme, dass er die Herzen aller Zuschauenden schnell erobern wird. Und als Nancy ist Emma Thompson die Idealbesetzung. Völlig angst- und schambefreit zeigt sie sich hüllenlos und lässt nicht nur ihren Humor und Witz, sondern vor allem auch ihre Verletzlichkeit und Sensibilität aufblitzen. Im Zusammenspiel mit der kongenialen Kamera von Bryan Mason fängt die Regisseurin Sophie Hyde die Vielseitigkeit dieser großen Darstellerin ein, die sich durch ihre expressive Mimik und ihre große Lebendigkeit von einem Moment auf den anderen wandeln kann: Von der verhärmten, verklemmten älteren Frau hin zu einer sinnlich erblühenden Verliebten. Und wenn sie sich dann glückseelig am Ende dem Blick ganz offenbart (und ihre Figur das ultimative körperliche Glück erfährt), dann lässt ihr inniges Lächeln die Leinwand erleuchten.
Jury-Begründung / Prädikat besonders wertvoll
Nancy Stokes ist eine verwitwete, pensionierte Religionslehrerin von gepflegter Erscheinung. Mit ihrem vor zwei Jahren verstorbenen Mann hat sie eine lange, wenn auch langweilige Ehe geführt und zwei Kinder großgezogen, die nun ihr eigenes Leben haben. Nancy ist nicht unglücklich, aber sie spürt eine Leere in sich und möchte nachholen, was ihr bisher vorenthalten blieb: Abenteuer, menschliche Nähe und guten Sex. Deshalb hat sie sich entschlossen, die Dienste eines jungen Sexarbeiters in Anspruch zu nehmen, den sie in einem anonymen Hotelzimmer am Rande der Stadt empfängt. Aber Leo Grande ist nicht nur ein äußerst attraktiver und entspannter Experte in Sachen körperlicher Liebe, sondern auch ein interessanter Gesprächspartner. Mit großem Einfühlungsvermögen gelingt es ihm, Nancys anfängliche Unsicherheit und Anspannung auszuräumen und das Bedürfnis nach weiteren Begegnungen zu wecken. Sie sind zunehmend geprägt von Intimität, Verbundenheit, aber auch Frustration und wechselnder Machtdynamik. Doch während Leo stets an seiner professionellen Distanz festhält, überschreitet Nancy eine Grenze, die sie nicht hätte überschreiten sollen.
Sex zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau ist ein fester Topos im Kino, umgekehrt ist die Beziehung einer älteren Frau zu einem jungen Mann, obwohl nicht mehr gänzlich tabuisiert, auf der Leinwand nach wie vor selten zu sehen – und wird dann gern mit Drama oder übermäßigem Klamauk assoziiert. Es ist ein großes Verdienst von Drehbuchautorin Katy Brand und Regisseurin Sophie Hyde, MEINE STUNDEN MIT LEO nicht als Liebesgeschichte, sondern als subtile Tragikomödie zu erzählen und dabei zwei außergewöhnlichen Schauspielpersönlichkeiten zu vertrauen, die mit Bravour und großer Liebe zu ihren Figuren agieren und wunderbar miteinander harmonieren. Emma Thompson, Grande Dame des britischen Films, verkörpert die ehemalige Lehrerin Nancy, die ihrem Leben eine neue Richtung und neue Freude geben will. Mit großer Intensität und kleinen Gesten macht sie das Dilemma der Frau erlebbar, die immer alle Regeln befolgt, aber dabei etwas Wesentliches versäumt hat. Auch jetzt schwankt sie beständig zwischen tief verankerter Prüderie und mutiger Entschlossenheit. Ihr mittlerweile verstorbener Mann war der Einzige, mit dem sie je geschlafen hat, und sexuelles Vergnügen hat sie dabei nie empfunden. Einen Orgasmus strebt sie auch jetzt nicht an, denn sie wolle ja realistisch bleiben. Zum zweiten Treffen bringt sie dann aber eine Liste mit Sexualpraktiken mit, die sie unbedingt ausprobieren möchte – allerdings kann sie es nur schwer ertragen, berührt zu werden. So ist es wahrhaft keine leichte Aufgabe für den jungen Sexarbeiter Leo Grande, mit großer Leinwandpräsenz verkörpert vom irischen Newcomer Daryl McCormack, mit Nancys angestammten Vorurteilen und plötzlichen Stimmungswechseln klarzukommen. Aber mit viel Charme und Empathie und vor allem mit ehrlichem Interesse an der Person, gelingt es ihm, ihre Anspannung zu lösen und ihr dabei zu helfen, ihre eingefahrenen Verhaltensweisen und ihre Ablehnung gegenüber dem eigenen Körper Schicht für Schicht abzulegen.
Dennoch gibt es für einen Film, der von Sex handelt, erstaunlich wenig Sexszenen und Nacktheit. Es wird zwar über Sex geredet, aber eigentlich geht es um Intimität, Vertrauen und Akzeptanz. Auf dem Weg dorthin kommt es zu Missverständnissen, Annäherungen, Zurückweisungen und allerhand Situationskomik – ausgedrückt in Worten, Mimik und Gestik. Als Menschen unterschiedlicher Generationen und Herkunft wären sich Nancy und Leo im Alltag wahrscheinlich nie näher gekommen, denn sie verkörpern ganz unterschiedliche Werte und Lebensstile. Jetzt treffen sie in einer Art Geschäftsbeziehung an einem neutralen Ort aufeinander. Beide haben ihre Rolle, wobei Nancy aus der Rolle, die sie ihr Leben lang gespielt und perfektioniert hat, ausbrechen will, während Leo in der Rolle des coolen Sexarbeiters, die er für sich geschaffen hat, Selbstsicherheit und Schutz findet. Als Nancy Recherchen nach dem wahren Menschen hinter der Rolle anstellt, bricht sie ein Tabu.
Im Grunde handelt es sich bei MEINE STUNDEN MIT LEO um ein klassisches Kammerspiel in drei Akten plus Epilog. Auch die von Wortwechseln geprägte Interaktion ist an das klassische Theater angelehnt, die meisten Dialoge sind dabei sehr pointiert angelegt. Einige eher banale Aussagen wirken für die Jury allerdings unter dem Niveau einer so scharfzüngigen und durchaus selbstironischen Frau wie Nancy. Auch den Grad ihrer anfänglichen Verklemmtheit nimmt man einer Frau um die 60, deren Jugend in den 1960er, 1970er Jahren lag, nicht ganz ab. Aber die präzise Inszenierung, das perfekte Timing, die immer wieder überraschende Situationskomik und vor allem die schauspielerische Intensität von Emma Thompson und Daryl McCormack helfen über alle Klippen hinweg. Es gelingt ihnen, glaubhafte Personen zu kreieren, die echtes Interesse aneinander entwickeln und miteinander harmonieren. Die weitgehende Konzentration auf das Hotelzimmer als einzigen Ort der Handlung unterstützt das Gefühl der Intimität. Lediglich sparsame Lichtreflexe im Fenster erinnern an die Außenwelt. Ausstattung und Kostüme sind elegant und dezent gestaltet und bilden das passende Ambiente für die Annäherung der Personen, die von der Kamera entsprechend begleitet wird. Sie bewegt sich zunächst ruhig im Raum, umkreist die Figuren und tastet sie vorsichtig ab, um schließlich in turbulentere Bewegung unter Einsatz der Handkamera überzugehen. Dagegen bleibt der Musikeinsatz eher klassisch.
Der Epilog spielt im Hotelrestaurant und bezieht als weitere Person eine Servicekraft ein, die sich als ehemalige Schülerin Nancys erweist. Hier kann Nancy – deutlicher, als es vielleicht hätte sein müssen – ihr neu gewonnenes Selbstbewusstsein demonstrieren. Wesentlich überzeugender und bewegender ist die Szene, in der Nancy völlig nackt von einem Spiegel steht und – zusammen mit dem Publikum – ganz ungeschönt ihren Körper betrachtet. Eine ungeheuer mutige Aktion der Schauspielerin Emma Thompson und der Höhepunkt eines Films, der in augenscheinlicher Leichtigkeit von der Tragik und der Emanzipation einer Frau erzählt, der es gelingt, nicht nur ihren eigenen Körper zu akzeptieren, sondern auch die unterschiedliche Haltung verschiedener Personen und Generationen zur Sexualität.