Der Atomkonsens sah ein Aus der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke (AKW) Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland zum 31. Dezember 2022 vor. Doch mit der Entscheidung zum Streckbetrieb bis April 2023 haben die Bundesregierung und der Bundestag diesen breiten gesellschaftlichen Kompromiss aufgekündigt. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) kritisiert diese Entscheidung aufs Schärfste und warnt vor den atomaren Gefahren auch im Streckbetrieb.
Olaf Bandt, Vorsitzender des BUND: „Der Weiterbetrieb der drei AKW ist reine Symbolpolitik. Weder zur Versorgungssicherheit noch zur Stromnetzstabilität in Deutschland trägt er signifikant bei und steht in keinem Verhältnis zu den Risiken. Statt in diesen Tagen das Aus der Atomkraft in Deutschland zu feiern, stellt der Staat einmal mehr Unsummen für diese Hochrisikotechnologie bereit. Die Rückbaukosten, die aufgrund des Streckbetriebs erheblich steigen dürften, zahlen laut Vereinbarung zwischen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und den Betreibern die Steuerzahlenden. Nutzen: Keiner!“
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die Bundesregierung leichtfertig die Tür für weitere Laufzeitverlängerungen aufgemacht, statt entschieden die Hochrisikotechnologie abzustellen. Bandt: „Schon jetzt zeigt sich, dass die maroden Reaktoren massive Sicherheitsmängel aufweisen und der geplante Betrieb sicherheitstechnisch große Fragen aufwirft. Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie – da darf es keine Experimente geben. Ein nochmaliges Aufweichen des Atomausstiegs und der notwendigen strikten Sicherheitsphilosophie darf es nicht geben.“
Mit Blick auf die unbekannten Gefahren im Streckbetrieb fügt Dieter Majer, ehemaliger Bereichsleiter für die Sicherheit kerntechnischer Anlage im Bundesumweltministerium an: „Das Hochfahren eines Reaktors ist die störanfälligste Phase in einem Atomkraftwerk. Für das Anfahren während des Streckbetriebes gibt es so gut wie keine Erfahrungen. Diese ungeklärten Risiken kommen demnach zu den allgemeinen Risiken eines Reaktorbetriebs hinzu. So ist beispielsweise die Menge der radioaktiven Spaltprodukte während des Streckbetriebs besonders hoch. Bei einer Störung muss daher mit der Freisetzung besonders hoher Mengen von radioaktiven Stoffen gerechnet werden. Weitere Probleme könnten bei der Kühlung der deutlich höheren Nachzerfallswärme bei einem Störfall im Streckbetrieb auftreten. Dabei könnte es sehr viel schneller zu einer Kernschmelze kommen. Vor dem Hintergrund der Risse in den Dampferzeugerheizrohren mehrerer betroffener Atomkraftwerke wäre es auf jeden Fall erforderlich, alle Dampferzeugerheizrohre vor dem Wiederanfahren auf Rissfreiheit zu überprüfen.“ Eine umfassende Überprüfung dieser Rohre ist nicht vorgesehen.
Hintergrund: Nach dem Beschluss der Bundesregierung sollen die drei verbliebenen AKW noch bis zum 15.04.2023 am Netz bleiben. Da auch die AKW-Betreiber den ursprünglich geplanten Atomausstieg Ende 2022 einkalkuliert hatten, befinden sich die AKW bereits im Streckbetrieb. Damit dieser Streckbetrieb bis Mitte April umgesetzt werden kann, musste bereits im Oktober das AKW Isar 2 kurzzeitig vom Netz genommen werden, um Komponenten auszutauschen. Bei den AKW Neckarwestheim 2 und Emsland müssen für den Streckbetrieb die Brennelemente neu angeordnet werden. Für das AKW Neckarwestheim 2 ist dies Ende Dezember, für das AKW Emsland Mitte Januar vorgesehen. Dabei wird die Einsatzdauer der Brennstäbe im Reaktor um einige Monate verlängert. Die Leistung des Reaktors sinkt sukzessive bis auf etwa 60 Prozent.