Thomas Stubers Episodenfilm ist eine liebevolle und authentisch-natürliche Milieustudie von Menschen, die in lakonischer Monotonie ihr Leben leben – bis die Sehnsucht nach Liebe sie aufleuchten lässt.
Wenn man wartet, bis es richtig dunkel ist, dann kann man sie sehen, die erleuchteten Trabanten-Hochhäuser am Horizont. So erzählt es Jens seiner Angebeteten Aischa, die früher Jana hieß, zum Islam konvertierte und verheiratet ist. Genau wie die beiden suchen auch Christa und Birgit nach Nähe. Immer wieder treffen sie sich in der Bahnhofskneipe, immer näher rücken sie zueinander. So wie Erik, der Wachmann, und die Ukrainerin Marika, die sich auf einem Spielplatz in der Nähe eines Flüchtlingsheims kennenlernen – und mit zarten Schritten aufeinander zugehen. Und am Ende sind sie alle zusammen nur Lichter, die aufblitzen. So wie die Trabantenhochhäuser am Horizont.
Regisseur Thomas Stuber und Co-Autor Clemens Meyer (das Drehbuch basiert auf seinen eigenen Kurzgeschichten) verweben in diesem Ensemblefilm drei zarte Liebesgeschichten, die geeint sind durch die Natürlichkeit der Figuren und ihrer Verhaftung in einem authentischen Setting und Milieu. Fern von jeder hochgestellten Gutbürgerlichkeit sind die Charaktere im besten Sinne einfach Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen und ihr Leben leben. Doch ihr Antrieb geht über die bloße Existenz hinaus. Denn jede und jeder von ihnen ist voller Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die die kongeniale Kamera von Peter Matjasko auf den Gesichtern omnipräsent und schmerzbar nah sichtbar macht. Die Besetzung des Ensemblefilms ist perfekt: Albrecht Schuch als sinnsuchender und unglücklich verliebter Imbissbesitzer, Lilith Stangenberg als verschämte Muslimin Aischa, die ihre eigenen Sehnsüchte nicht zulassen will; Martina Gedeck als verhärmte Bahnmitarbeiterin, die sich der verträumt-quirligen Nastassja Kinski nur langsam öffnen kann; oder Charly Hübner, der schüchtern-verliebt den Kontakt zu Marika (entwaffnend natürlich: Irina Starshenbaum) sucht. Mit klugem Geschick und einem genauen Empfinden für Stimmungen wechselt der Film zwischen den Geschichten hin und her, die jede für sich alleine überzeugt und doch gerade im Zusammenspiel besonders stark erscheint. Der Score von Kat Frankie intoniert die Melancholie und Lakonie des Alltags, die Dialoge sind reduziert und wirken trotz Genauigkeit nie künstlich. Als übergreifenden Leitfaden setzen Stuber und sein Team die Stadtkulisse Leipzigs ein. Dabei verzichten sie auf Postkartenmomente und setzen auf die rauhe Ehrlichkeit einer Umgebung, die voller ebenso rauher und ehrlicher und damit auch glaubhafter Schicksale ist. Ein liebevoll zarter und wunderbar menschlicher Film.
Jury-Begründung / Prädikat besonders wertvoll
Die Figuren in Thomas Stubers neuem Film sind „stille Trabanten“, weil sie nicht zu den Personen gehören, von denen oft Liebesgeschichten erzählt werden. Sie gehören zu dem, was früher das „Proletariat“ genannt wurde – heute kann man sie Dienstleister:innen nennen. Der Eine ist Wachmann, eine Andere gehört zum Reinigungspersonal der Deutschen Bahn, wieder Einer ist Imbissbesitzer, und dann gibt es da noch eine Friseurin. Sie sind die Stillen, die kein aufregendes Leben führen, sondern sich abmühen, um die Miete bezahlen zu können. Thomas Stuber und Clemens Meyer, auf dessen Kurzgeschichten der Film basiert, zeigen, dass auch unter diesen Figuren die Liebe einschlagen kann, und dass sich durch diese Liebe sogar in Betonhochhäusern und Bahnhofskneipen alles verändern kann. Doch Stuber und Meyer vermeiden es, romantisch oder gar melodramatisch zu erzählen. Die Protagonisten haben es sich ruhig in ihren Verhältnissen eingerichtet, und die Liebe zeigt sich in kleinen Momenten der Nähe und Zuneigung. Der Film erzählt, wie sie leben und arbeiten, und wie sie sich dabei kennenlernen. In der Kneipe beim gepflegten Trinken, auf dem Balkon beim Zigarettenrauchen oder nachts auf einem Spielplatz kommen diese drei Paare zueinander, und Thomas Stuber lässt sich Zeit damit, genau zu zeigen, was sie zueinander treibt und welche Schwierigkeiten sich ihnen dabei stellen. Er zeigt, zu welcher Zärtlichkeit sie fähig sind – auch und gerade die zwei Männer, die beide die autoaggressive Ayisha lieben, aber denen ihre Freundschaft fast genauso wichtig ist. Durch die einfühlsame Inszenierung kommt man den Protagonist:innen sehr nah, und wenn die Regel stimmt, dass der entscheidende Teil der Regiearbeit die Besetzung ist, dann liefert DIE STILLEN TRABANTEN einen guten Beleg dafür. Großartige deutsche Schauspieler:innen wie Martina Gedeck, Albrecht Schuch und Charly Hübner spielen hier so natürlich und intensiv, dass sie bald mit ihren Rollen zu verschmelzen scheinen, und Nastassja Kinski, die lange keine Kinorolle mehr angenommen hatte, ist hier kaum wiederzuerkennen. Der Film hat einen angenehmen ruhigen Fluss und wird nie laut. Wie alle guten Liebeslieder, Liebesgeschichten und Liebesfilme hat er einen melancholischen Grundton, aber Thomas Stuber gönnt nicht nur einem seiner Paare ein hoffnungsvolles Ende – er lässt sogar auf einem Leipziger Hinterhof einen Kirschbaum blühen.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) / 29.11.2022
Foto: FBW