Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer jährlichen Rede zur Lage der Union das gemeinsame Handeln Europas in den letzten Monaten gewürdigt. „In diesem Jahr haben wir, kaum hatten die russischen Truppen die ukrainische Grenze überschritten, geeint, entschlossen und schnell reagiert. Und darauf sollten wir stolz sein. Wir haben die innere Stärke Europas wieder zum Vorschein gebracht“, sagte von der Leyen vor dem Europäischen Parlament. Diese Stärke werde gebraucht, denn die bevorstehenden Monate würden nicht leicht, so von der Leyen weiter: „Weder für Familien, die nur schwer über die Runden kommen, noch für Unternehmen, die schwierige Zukunftsentscheidungen treffen müssen.“
Europa werde auf die Probe gestellt. „Dies ist nicht nur ein Krieg Russlands gegen die Ukraine. Dies ist ein Krieg gegen unsere Energieversorgung, ein Krieg gegen unsere Wirtschaft, ein Krieg gegen unsere Werte und ein Krieg gegen unsere Zukunft. Hier kämpft Autokratie gegen Demokratie. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir Putin mit Mut und Solidarität zum Scheitern bringen werden und Europa am Ende die Oberhand gewinnt.“
Die Kommissionspräsidentin bekräftige erneut die Solidarität Europas mit der Ukraine und kündigte an, noch heute nach Kiew zu reisen und mit Präsident Selenskyj zusammenzutreffen. Dort wolle sie über eine engere Anbindung der Ukraine an den europäischen Markt beraten: „Aufbauend auf dem schon Erreichten wird die Kommission mit der Ukraine darauf hinarbeiten, einen nahtlosen Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren. Und umgekehrt.Unser Binnenmarkt ist eine der größten Erfolgsgeschichten Europas. Nun ist es an der Zeit, ihn auch für unsere ukrainischen Freundinnen und Freunde zu einer Erfolgsgeschichte zu machen.“
Auch mit der First Lady der Ukraine, Olena Selenska, die heute bei der Rede im Europäischen Parlament in Straßburg zu Gast war, wird die Kommissionspräsidentin zusammenarbeiten. Um den Wiederaufbau beschädigter ukrainischer Schulen zu unterstützen, werde die Kommission 100 Millionen Euro bereitstellen, so von der Leyen.
An Olena Selensky gerichtet sagte die Kommissionspräsidentin: „Die Ukraine ist stark, weil Menschen wie Ihr Mann, Präsident Selenskyj, in Kiew geblieben sind, um den Widerstand anzuführen – und Sie liebe First Lady sind mit Ihren Kindern an seiner Seite geblieben. Sie haben der gesamten Nation Mut gegeben. Und wir haben in den vergangenen Tagen gesehen, was die Tapferkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer alles bewirken kann.“
Die Kommissionspräsidentin bekräftigte das entschlossene Handeln der EU in ihrem Kurs gegenüber Russland: „Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, dass die Sanktionen von Dauer sein werden. Das ist die Zeit für Entschlossenheit, nicht für Beschwichtigungen.“ Um sich aus der Energieabhängigkeit von Russland zu befreien, hat Europa bereits viel erreicht. Die Gasspeicher sind zu 84 Prozent gefüllt, die Gasimporte aus Russland von 40 Prozent auf 9 Prozent zurückgegangen. Das werde allerdings nicht ausreichen, so die Kommissionspräsidentin: „Russland manipuliert unseren Energiemarkt weiterhin. Es fackelt Gas lieber ab anstatt es zu liefern. Dieser Markt funktioniert nicht mehr. Zusätzlich dazu verursacht die Klimakrise hohe Kosten. Hitzewellen haben die Stromnachfrage in die Höhe getrieben. Extreme Trockenheit führte zur Abschaltung von Wasser- und Kernkraftwerken.“
Die Kommission schlage deshalb Maßnahmen vor, mit denen die Mitgliedstaaten ihren Stromverbrauch insgesamt senken können, so von der Leyen. Darüber hinaus sei weitere Unterstützung nötig: „Deshalb schlagen wir eine Obergrenze für die Einnahmen von Unternehmen vor, die Strom zu niedrigen Kosten erzeugen.Diese Unternehmen machen Gewinne, mit denen sie selbst in ihren kühnsten Träumen nie gerechnet hätten. In unserer sozialen Marktwirtschaft sind Gewinne gut. In Zeiten wie diesen ist es jedoch schwierig, aufgrund des Krieges und auf dem Rücken der Verbraucher Übergewinne zu erzielen. In Zeiten wie diesen müssen Gewinne geteilt und an die Bedürftigsten umgeleitet werden. Unser Vorschlag wird mehr als 140 Milliarden. Euro für die Mitgliedstaaten bringen, um die Not unmittelbar abzufedern“, erklärte von der Leyen.
Der fossilen Brennstoffindustrie komme ebenfalls eine besondere Pflicht zu, so von der Leyen weiter: „Auch große Öl-, Gas- und Kohleunternehmen erzielen enorme Gewinne. Sie müssen also ihren gerechten Beitrag leisten – sie müssen eine Krisenabgabe leisten. All diese Maßnahmen sind Notmaßnahmen und vorübergehend, auch unsere Diskussionen über Preisobergrenzen.“
Als weiteren Schritt kündigte die Kommissionspräsidentin an, im Oktober den befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zu ändern, um staatliche Garantien zu ermöglichen und gleichzeitig gleiche Wettbewerbsbedingungen zu wahren. Von der Leyen sagte weiter: „Die derzeitige Ausgestaltung des Elektrizitätsmarkts – die auf dem Merit-Order-Prinzip beruht – wird den Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher nicht länger gerecht. Diese sollten die Vorteile der kostengünstigen erneuerbaren Energien nutzen können. Wir müssen deshalb den Strom- vom dominanten Gaspreis entkoppeln. Aus diesem Grund werden wir den Elektrizitätsmarkt einer tiefen und umfassenden Reform unterziehen.“
Europäischen Grünen Deal vorantreiben
Um die Transformation der Energieversorgung voranzubringen, kündigte die Kommissionspräsidentin die Gründung einer Europäischen Wasserstoffbank an: „Sie wird dafür sorgen, dass wir Wasserstoff ankaufen können, insbesondere durch die Verwendung von Mitteln aus dem Innovationsfonds. Sie wird in der Lage sein, 3 Milliarden Euro in den Aufbau des künftigen Marktes für Wasserstoff zu investieren.Darauf werden wir die Wirtschaft von morgen aufbauen. Genau das ist unser europäischer Green Deal.“
Alle hätten in den vergangenen Monaten gesehen, wie wichtig der europäische Green Deal sei: „Der Sommer 2022 wird uns im Gedächtnis bleiben. Wir alle haben die ausgetrockneten Flüsse, die Waldbrände und die Hitzewelle gesehen. In diesem Sommer haben wir Flugzeuge aus Griechenland, Schweden und Italien zur Bekämpfung von Bränden nach Frankreich und Deutschland geschickt. Da die Katastrophen jedoch immer häufiger und immer intensiver über uns hereinbrechen, braucht Europa mehr Kapazitäten. Deshalb darf ich heute verkünden, dass wir unsere Brandbekämpfungskapazitäten im nächsten Jahr verdoppeln werden. Die Europäische Union wird ihre Flotte um zehn leichte Löschflugzeuge und drei zusätzliche Hubschrauber erweitern.Das ist gelebte europäische Solidarität.“
Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung
Europa müsse auch den Übergang zu einer digitalen und klimaneutralen Wirtschaft fördern. Dabei müsse aber auch eine neue Realität der höheren Staatsverschuldung anerkannt werden, so die Kommissionspräsidentin. „Wir brauchen fiskalpolitische Regelungen, die strategische Investitionen ermöglichen und gleichzeitig die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gewährleisten. Regelungen, die an die Herausforderungen dieses Jahrzehnts angepasst sind. Im Oktober werden wir neue Vorschläge für unsere wirtschaftspolitische Steuerung vorlegen.“
Für den ökologischen und digitalen Wandel brauche Europa günstige Rahmenbedingungen für Unternehmen, Arbeitskräfte mit den richtigen KompetenzenundZugang zu Rohstoffenfür unsere Industrie, betonte von der Leyen. „Wir müssen die Hindernisse beseitigen, die unseren kleineneren und mittleren Unternehmen nach wie vor das Leben schwer machen. Sie müssen im Mittelpunkt dieses Wandels stehen, weil sie schon seit jeher das Rückgrat der europäischen Industrie sind. Ihre Arbeitskräfte standen stets an erster Stelle – auch und vor allem in Krisenzeiten. Doch Inflation und Unsicherheit treffen sie besonders. Daher werden wir ein KMU-Entlastungspaket auf den Weg bringen: Enthalten wird es einen Vorschlag für einheitliche Steuervorschriften für Geschäftstätigkeit in Europa – BEFIT. Ziel ist, in unserer Union leichter Geschäfte tätigen zu können. Weniger Bürokratie bedeutet einen besseren Zugang zu einem dynamischen kontinentalen Markt.“
Eine weitere Herausforderung für Europas Unternehmen sei der Mangel an Personal. „Wir müssen daher viel stärker in die Aus- und Weiterbildung investieren“, sagte von der Leyen. „Darüber hinaus wollen wir gezielter Fachkräfte aus dem Ausland anwerben, die hier Unternehmen und Europas Wachstum stärken. Ein wichtiger erster Schritt ist, ihre Qualifikationen in Europa besser und schneller anzuerkennen. Denn Europa muss attraktiver werden für die, die etwas können und sich einbringen wollen. Deshalb schlage ich vor, 2023 zum Europäischen Jahr der Aus- und Weiterbildung zu machen.“
Auch der Zugang zu Rohstoffen sei entscheidend für die erfolgreiche Transformation hin zu einer nachhaltigen und digitalen Wirtschaft. „Ich werde daher die Abkommen mit Chile, Mexiko und Neuseeland zur Ratifizierung vorlegen. Und wir treiben die Verhandlungen mit bedeutenden Partnern wie Australien und Indien voran“, so von der Leyen.
Als weiteren Schritt kündigte die Kommissionspräsidentin ein europäisches Gesetz zu kritischen Rohstoffen an: „Wir wissen, dass dieser Ansatz funktionieren kann. Vor fünf Jahren wurde die Europäische Batterie-Allianz ins Leben gerufen. Und bald werden zwei Drittel der benötigten Batterien in Europa hergestellt. Letztes Jahr habe ich das Europäische Chip-Gesetz angekündigt. Und die erste Chip-Gigafabrik wird in den kommenden Monaten den Anfang machen. An diesem Erfolg müssen wir nun anknüpfen. Deshalb werden wir unsere finanzielle Beteiligung an wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse erweitern. Und für die Zukunft werde ich auf einen neuen Europäischen Souveränitätsfonds hinarbeiten.Wir müssen dafür sorgen, dass die Zukunft der Industrie in Europa liegt.“
Für eine europäische politische Gemeinschaft
Der russische Angriffskrieg sei ein „Wendepunkt in der Weltpolitik und erfordere ein Überdenken unserer außenpolitischen Agenda. Es ist Zeit, in die Macht der Demokratien zu investieren“, betonte von der Leyen. „Das beginnt bei den Ländern, die sich bereits auf dem Weg in unsere Union befinden. Wir müssen ihnen bei jedem Schritt auf diesem Weg zur Seite stehen. Denn der Weg zu einer starken Demokratie und der Weg zu unserer Union sind ein und derselbe. Deshalb möchte ich die Menschen des westlichen Balkans, der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens wissen lassen: Sie gehören zu unserer Familie, Ihre Zukunft liegt in unserer Union, und unsere Union ist ohne Sie nicht komplett!
Wir haben auch gesehen, dass wir den Ländern Europas unsere Hand reichen müssen – über Beitrittsprozesse hinaus. Deshalb unterstütze ich die Forderung nach einer europäischen politischen Gemeinschaft – und wir werden dem Europäischen Rat unsere Vorschläge präsentieren.“
Demokratie schützen
Europa müsse sich aber auch besser vor böswilliger Einmischung von außen schützen. „Deshalb werden wir ein Paket zur Verteidigung der Demokratie vorlegen.Dies wird helfen, verdeckte ausländische Einflussnahme und dubiose Finanzierungen ans Licht zu bringen. Wir werden es Autokratien nicht erlauben, unsere Demokratien auf trojanische Art von innen anzugreifen.“
Die Demokratien müssten auch vor Gefahren geschützt werden, die im Inneren lauern, so von der Leyen weiter. „Es ist die Pflicht und die vornehmste Aufgabe meiner Kommission, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen. Ich versichere Ihnen daher: Wir werden weiterhin auf die Unabhängigkeit der Justiz pochen. Und wir werden unsere Steuermittel durch den Konditionalitätsmechanismus schützen.“
Von der Leyen rückte auch den Kampf gegen Korruption in den Fokus: „Wenn wir Beitrittskandidaten auffordern, ihre Demokratien zu stärken, sind wir nur dann glaubwürdig, wenn wir auch die Korruption bei uns selbst beseitigen. Deshalb wird die Kommission im kommenden Jahr Vorschläge zur Aktualisierung unseres Rechtsrahmens für die Korruptionsbekämpfung vorlegen. Wir werden über klassische Straftaten wie Bestechung hinaus auch schärfere Standards für Straftaten wie illegale Bereicherung, unerlaubte Einflussnahme und Machtmissbrauch einführen. Und wir haben vor, den Tatbestand der Korruption in unser Sanktionsregime zum Schutz der Menschenrechte aufzunehmen, das ja unser neues Instrument zum Schutz unserer Werte im außerhalb unserer Grenzen ist.“
Bei der Aufnahme von Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern habe sich Europa von seiner besten Seite gezeigt, so von der Leyen. Aber diese Entschlossenheit und diese Solidarität fehlten immer noch in der Migrationsdebatte. „Unser Engagement für die ukrainischen Flüchtlinge darf keine Ausnahme bleiben. Sie kann unser Modell für die Zukunft sein. Wir brauchen faire und zügige Verfahren, ein krisenfestes System, das schnell mobilisiert werden kann, und einen permanenten rechtsverbindlichen Mechanismus, der Solidarität gewährleistet. Gleichzeitig brauchen wir eine wirksame Kontrolle unserer Außengrenzen unter Achtung der Grundrechte. Ich will ein Europa, das Migration würde- und respektvoll steuert.
Ich will ein Europa, in dem alle Mitgliedstaaten Verantwortung für die Herausforderungen übernehmen, vor denen wir alle stehen. Und ich ein Europa, das sich gegenüber allen Mitgliedstaaten solidarisch zeigt. Wir haben Fortschritte beim Migrationspaket erreicht, wir haben einen Fahrplan. Nun brauchen wir noch den politischen Willen zum Vorankommen.“
Ein Europäischer Konvent
Abschließend rief die Kommissionspräsidentin dazu auf, „bei allem, was wir planen und anpacken, die Hoffnungen der jungen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Daher, meine Damen und Herren Abgeordnete, glaube ich, dass es an der Zeit ist, die Solidarität zwischen den Generationen in unseren Verträgen zu verankern. Es ist an der Zeit, das europäische Versprechen zu erneuern. Und wir müssen auch die Art und Weise, wie wir handeln und entscheiden, verbessern.
Manche sind vielleicht der Ansicht, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt sei. Aber wenn wir uns ernsthaft auf die Welt von morgen vorbereiten wollen, müssen wir auch in der Lage sein, die Dinge anzugehen, die für die Menschen am wichtigsten sind. Und da wir ernsthaft eine Erweiterung der Union ins Auge fassen, müssen wir uns auch ernsthaft um Reformen bemühen. Daher bin ich der Ansicht, dass – wie von diesesm Parlament gefordert – die Zeit für einen Europäischen Konvent gekommen ist.“
EU-Kommission / 14.09.2022
Foto: EU-Kommission