Der Mord an Musa Anter bleibt ungesühnt. Das zuständige Gericht in Ankara hat am Mittwoch entschieden, dass die Verjährungsfrist abgelaufen ist und niemand mehr für das Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden kann. Der kurdische Schriftsteller, Dichter und Journalist Musa Anter ist am 20. September 1992 in Amed (tr. Diyarbakir) ermordet worden. Nachdem die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen fast zwei Jahrzehnte lang verschleppte, kam es letztlich durch Erkenntnisse im Zusammenhang mit den Susurluk-Ermittlungen und öffentlichen Druck durch Menschenrechtsorganisationen zu einer Anklage gegen die Täter. Weiterhin spielten jedoch sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht auf Zeit, um zu gewährleisten, dass die, die den Mord im Auftrag des türkischen Staates ausgeführt hatten, straffrei ausgehen.
An der Gerichtsverhandlung in Ankara nahmen zahlreiche Politiker:innen und Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen als Prozessbeobachter:innen teil. Nach der Urteilsverkündung kam es vor dem Gerichtsgebäude zu einer Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den Prozessbeobachter:innen, als diese eine Erklärung abgeben wollten. Die Menschenmenge wurde von der Polizei abgedrängt. Der Ko-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, erklärte, dass die Gerichtsentscheidung keine Überraschung gewesen sei: „Wie erwartet wurde das Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Dies muss unter zwei Gesichtspunkten bewertet werden: In rechtlicher und politischer Hinsicht. Das Gericht hatte nicht über die Verjährungsfrist zu entscheiden, denn dieser Mord kann nicht als gewöhnliche Tat angesehen werden. Es handelt sich um einen der wichtigsten Fälle in einer Reihe von Morden, die durch eine politische Entscheidung innerhalb des Staates geplant wurden. Daher müssen sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt werden. Das ist das, was universelle Rechtsnormen vorschreiben.“
Politik der Straffreiheit
Sancar betonte, dass es zu optimistisch und naiv wäre, zu erwarten, dass die derzeitige Beschaffenheit der Justiz in der Türkei ein anderes Urteil zulassen würde: „Wir beobachten seit langem, dass in allen ähnlichen Fällen unter dem Vorwand der Verjährung eine Politik der Straffreiheit betrieben wird. Straffreiheit ist in diesem Land ein fester Bestandteil der politischen Kultur, der bei Bedarf aktiviert wird. Straflosigkeit ist eine Methode zur Vertuschung von staatlichen und staatsnahen Verbrechen sowie von Verbrechen, die von Organisationen innerhalb des Staates begangen werden. Die AKP/MHP-Regierung hat diese Kultur ihrer Vorgänger übernommen und setzt diese Politik weiterhin entschlossen um.“
Kriminelles Imperium in der Türkei
Die Erdogan-Regierung habe die Politik der Straflosigkeit auch auf andere Bereiche ausgedehnt und zur Entstehung eines kriminellen Imperiums in der Türkei beigetragen, erklärte der HDP-Vorsitzende: „Wir werden diese Fälle nicht auf sich beruhen lassen. Die Politik der Straffreiheit ist ein Instrument der Beherrschung und Einschüchterung. Sie ist eine wirksame Methode der Machthaber und der Kräfte im Staat, um die Opposition und die Gesellschaft einzuschüchtern. Diese Regierung setzt diese Methode weiterhin in allen Bereichen ein.
Im Fall Musa Anter sind alle Fakten offenkundig, und es liegen Geständnisse von Staatsbeamten auf höchster Ebene vor. Die von der parlamentarischen Untersuchungskommission geleistete Arbeit ist in einen Bericht eingeflossen, in dem alle Zusammenhänge, die Vorgänge, die zur Begehung dieses Mordes geführt haben, und die Personen, die an der Begehung dieses Mordes beteiligt waren, klar beschrieben sind. Trotz all dieser Fakten ist die Tatsache, dass der Fall seit 30 Jahren nicht abgeschlossen wurde, obwohl alles offengelegt wurde, rechtlich nicht zu erklären. Im Gegenteil, es handelt sich um eine politische Präferenz, eine sehr klare Überlegung. Die Abweisung dieser Fälle auf diese Weise wird den Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit sicherlich nicht verhindern. Die Regierung greift zu allen Mitteln, um die Stimmen derer zum Schweigen zu bringen, die nach Wahrheit und Gerechtigkeit streben. Der heutige Angriff auf die Samstagsmütter in Istanbul ist ein Produkt derselben Mentalität und Politik. Die Samstagsmütter sind allen Arten von Behinderungen, Druck und Gewalt ausgesetzt, weil sie entschlossen ihren Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit in Bezug auf die ungeklärten Morde und das Verschwindenlassen fortsetzen.
„Die Regierung wird sich dem Kampf um Gerechtigkeit stellen müssen“
Wir kündigen hiermit allen an, dass der Kampf um die Wahrheit nicht enden wird und die Suche nach Gerechtigkeit weitergehen wird. Diese Akten mögen heute geschlossen sein, und es mag optimistisch sein, unter diesen Umständen andere Entscheidungen in den nächsten Phasen der Gerichtsverfahren zu erwarten, aber diese Umstände werden sich ändern. Das Regime, das dieses kriminelle Imperium mit der Politik der Straffreiheit aufgebaut hat, wird sich ändern. Die Banden im Staat, ihre politischen Förderer und Kollaborateure, die an diesen Verbrechen beteiligt waren, und die Beamten auf allen Ebenen, die bei der Vertuschung ihrer Verbrechen eine Rolle gespielt haben, werden definitiv die Konsequenzen des Kampfes für Gerechtigkeit tragen müssen, wenn dieses Regime wechselt. Das Streben nach Gerechtigkeit zielt auch darauf ab, der Mentalität der Macht ein Ende zu setzen, die die Politik der Straflosigkeit dieses verbrecherischen Regimes überall und in jedem Bereich verbreitet. Der Kampf für Gerechtigkeit beinhaltet auch das Ziel, wirkliche Gerechtigkeit zu erreichen und einen neuen Anfang zu machen, um die Wahrheit über die schrecklichen Verbrechen aufzudecken, die von all diesen staatsfeindlichen Organisationen und Banden begangen wurden.
„Wir werden das Vermächtnis von Musa Anter lebendig halten“
Dieses Land wird bald die Erfolgsgeschichte derjenigen erleben, die für einen Neuanfang in Sachen Demokratie, Gerechtigkeit und Wahrheit kämpfen. Alle demokratischen Kräfte werden diese Seite gemeinsam öffnen. Eine neue Konstruktion wird sicher gelingen. Der Abschluss des Falles der Ermordung von Apê Musa auf diese Weise gebietet uns auch, das Vermächtnis von Apê Musa und seine Haltung anzunehmen. Wir werden die Stimme und das Vermächtnis von Apê Musa lebendig halten. Diese Werte, die er uns hinterlassen hat, werden uns in unserem Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit leiten. Der Kampf um Gerechtigkeit geht weiter. Es ist klar, dass wir diesen Kampf führen müssen, indem wir ihn noch größer machen. In dieser Hinsicht hat niemand das Recht, sich vor seinen Pflichten und seiner Verantwortung zu drücken. Wir haben die Augabe, eine möglichst breite Partnerschaft im Kampf für Gerechtigkeit, Wahrheit und Demokratie aufzubauen. Und wir glauben, dass wir dies erreichen werden.“