Sie flohen vor Verfolgung und Repressionen: Seit Wochen diskutiert die Bundesregierung über den Umgang mit kremlkritischen Journalistinnen und Journalisten, welche sich seit Russlands Überfall der Ukraine mit 90-Tage-Visa in Deutschland aufhalten. Reporter ohne Grenzen (RSF) steht mit 40 Medienschaffenden in Kontakt. Laut einem Spiegel-Bericht zeichnet sich für sie nun eine Lösung ab: Ihre Ende Mai abgelaufenen Schengen-Visa sollen in nationale Visa umgewandelt werden. Mit diesen dürfen sich die Medienschaffenden in der Regel bis zu einem Jahr in Deutschland aufhalten. Unklar bleibt, inwieweit die Medienschaffenden erwerbstätig sein dürfen. Zur Deckung der Lebenskosten sollen sie übergangsweise Stipendien aus dem Etat von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen) erhalten.
„Grundsätzlich begrüßen wir diese Lösung“, erklärt Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF). “Auf eine unbürokratische Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis drängen wir schon seit mehreren Wochen.” Allerdings helfe der jetzige Schritt nur den gelisteten Medienschaffenden. In Deutschland hielten sich aber mittlerweile mehr russische Journalistinnen und Journalisten mit Schengen-Visa auf. „Es braucht grundsätzlich geregelte Verfahren, um nach Deutschland geflüchteten Medienschaffenden einen langfristigen Aufenthalt zu ermöglichen.“ Denkbar wären zum Beispiel Aufnahmeprogramme für gefährdete Journalistinnen und Journalisten der einzelnen Bundesländer.
Klärungsbedarf bei humanitären Visa
Dringenden Handlungsbedarf sieht RSF weiterhin gegenüber bedrohten Journalistinnen und Journalisten, die sich noch in Russland aufhalten. Ende Mai hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dieser gefährdeten Gruppe humanitäre Visa nach Einzelfallprüfung auf Grundlage von Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes zugesichert. Zwar einigte sich die Bundesregierung mittlerweile auf ein Profilraster, um für die Einreise in Frage kommende Medienschaffenden zu identifizieren.
Entscheidende Details der Regelung bleiben jedoch weiter unklar: So sind bisher weder Dauer noch der konkrete Ablauf des Prozesses der Visavergabe bekannt. Ungewiss ist auch, ob RSF – oder andere zivilgesellschaftliche Organisationen – die Behörden während des Prüfungsverfahrens beraten sollen.
Klärungsbedarf besteht zudem beim Umgang mit Angehörigen der russischen Medienschaffenden: Können auch Lebenspartner aus nicht registrierten oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften nach Deutschland einreisen? Dürfen pflegebedürftige Eltern russischer Medienschaffender kommen? Werden gerade volljährig gewordene Kinder aufgenommen? Bisher ist lediglich für Kernfamilien die Möglichkeit einer Aufnahme vorgesehen – nach entsprechender Einzelfallprüfung.
Sicherheit für Kameraleute und Assistenten
Eine Aufnahmeperspektive brauchen auch Kameraleute, Assistenten und andere Mitarbeiter russischer Journalistinnen und Journalisten, die aufgrund ihrer Tätigkeit bedroht sind. Auch ihnen sollten humanitäre Visa gewährt werden. Gleiches gilt für russische Medienschaffende, die in Drittstaaten wie Armenien, Georgien oder die Türkei flüchteten – und weiter nach Deutschland wollen. Ihre Aufnahme nach Einzelfallprüfung liegt bisher im Ermessensbereich der Behörden. Solange sie in ihrer Heimat gefährdet sind, sollte aus Sicht von RSF bei der Visa-Vergabe jedoch nicht zwischen Aufenthalten in Russland und Drittstaaten unterschieden werden.
RSF spricht sich gegen eine starre Obergrenze bei der Aufnahme bedrohter russischer Journalistinnen und Journalisten in Deutschland aus. Ein solches Limit war 2020 für Belarus beschlossen worden – Deutschland gewährte damals nur 50 humanitäre Visa für politisch Verfolgte.
Reporter ohne Grenzen (RSF) / 10.06.2022
Foto: Reporter ohne Grenzen (RSF)