Reporter ohne Grenzen (RSF) ist beunruhigt über die sich verschlechternde Situation der Pressefreiheit in Äthiopien. Innerhalb von zehn Tagen sind dort zuletzt mindestens 18 Journalistinnen und Reporter verhaftet worden. Dessu Dulla, Chefredakteur des Oromia News Network, und Bikila Amenu, dem bekannten Moderator des gleichen Senders, könnte sogar ein Todesurteil drohen. Vor allem in der Region Tigray, aber auch in anderen Landesteilen, kommt es seit eineinhalb Jahren zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Im Zuge dessen wurden im Mai etwa 6.000 Menschen festgenommen, unter ihnen auch Medienschaffende.
„Die Situation in Äthiopien ist äußerst besorgniserregend“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Zwei Journalisten die Todesstrafe anzudrohen, nur weil sie ihre Arbeit gemacht haben, ist ungeheuerlich. Das Land leidet unter einer akuten humanitären und politischen Krise. Trotzdem dürfen die Behörden die Zusammenstöße nicht als Vorwand benutzen, um die Pressefreiheit einzuschränken. Wir fordern die Regierung auf, sofort alle Anklagen gegen die beiden Journalisten fallen zu lassen und die Massenverhaftungen zu beenden.“
Dessu Dulla und Bikila Amenu sitzen seit Ende 2021 in Haft, ihnen werden Verstöße gegen die Verfassung vorgeworfen. Darauf kann die Todesstrafe stehen. Die beiden Journalisten wurden im Zusammenhang mit ihrer Dokumentation von Verbrechen in den Regionen Tigray und Oromia angeklagt. Die Repression gegenüber Journalistinnen und Journalisten stieg zuletzt drastisch an: Zwischen 19. und 28. Mai sind mindestens 18 Medienschaffende festgenommen worden. Äthiopien könnte damit sein Nachbarland Eritrea als traurigen Spitzenreiter derjenigen Länder in Subsahara-Afrika, die die meisten Medienschaffenden ins Gefängnis werfen, ablösen.
Massenverhaftungen
Viele der festgenommenen Journalistinnen und Reporter berichten für unabhängige Medien oder auf YouTube-Kanälen über die Vorgänge im Land, darunter Meaza Mohammed von Roha TV, Sabontu Ahmed von Finfinnee Integrated Broadcasting, Solomun Shuye von Gebeyanu Media und Yayesew Shimelis, ehemals bei Ethio Forum Media. Der pauschale Vorwurf der Zentralregierung lautet meist, sie hätten zur Gewalt aufgestachelt und Unfrieden gestiftet. Dabei haben manche von ihnen, etwa Temesgen Desalegn vom Feteh Magazine, schon seit mehreren Jahren nichts mehr auf ihren YouTube-Kanälen veröffentlicht.
Die Verhaftungen begannen am 19. Mai in Bahir Dar, der Hauptstadt der Verwaltungsregion Amhara. Sie grenzt an Tigray und ist mit über 20 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern die zweitbevölkerungsreichste Region Äthiopiens. In einer so genannten „Strafverfolgungsoperation“ verhafteten Sicherheitskräfte der Zentralregierung vier Journalisten der Nisir International Broadcasting Corporation und fünf des Ashara YouTube-Kanals. Sie wurden verdächtigt, die Fano zu unterstützen, eine in Amhara aktive Miliz, die von der Zentralregierung als Bedrohung angesehen wird.
Derzeit sieht es danach aus, dass die massiven Razzien fortgesetzt werden könnten. Am 27. Mai teilte die Bundespolizei mit, sie habe „111 illegale Internetmedien identifiziert, die Tag und Nacht daran arbeiten, falsche Propaganda zu verbreiten“. Medienschaffende, die „interethnische und interreligiöse Konflikte schüren und den Frieden und die Sicherheit des Landes stören, wurden identifiziert und verhaftet.“ Die Polizei warf ihnen außerdem vor, Hassreden zu halten und dafür bezahlt zu werden, falsche Informationen zu verbreiten und Konflikte zu schüren.
Willkürliche Verfahren
Einige der verhafteten Medienschaffenden, wie Meskerem Abera vom YouTube-Kanal Ethio Nekat Media, sollten vor Gericht erscheinen, andere saßen längere Zeit in Isolationshaft. Der Journalist Gobeze Sisay zum Beispiel wurde neun Tage lang unter unklaren Umständen festgehalten. Ein solches Vorgehen der Sicherheitskräfte verstößt gegen das äthiopische Mediengesetz.
Tarikua Getachew, Direktor für Recht und Politik bei der Äthiopischen Menschenrechtskommission (EHRC), erklärte gegenüber RSF: „Die EHRC ist besorgt über die rechtswidrige Untersuchungshaft, die Verweigerung des Besuchsrechts und die Haftbedingungen. Wir fordern erneut die Einhaltung des Mediengesetzes und die sofortige Freilassung der Inhaftierten.“
Schrumpfender Raum für Medien
Die willkürlichen Verhaftungen und Verfahren sind zutiefst besorgniserregend. Sie stellen zudem eine zusätzliche Bedrohung für den Journalismus in einem Land dar, in dem die Möglichkeiten freier Berichterstattung bereits durch die Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und der Tigray People’s Liberation Front (TPLF) stark eingeschränkt sind. Mehrere äthiopische Medienschaffende, etwa Lucy Kasa, die als Freiberuflerin unter anderem für Al-Dschasira arbeitet, waren gezwungen, das Land zu verlassen. Kasa war stetigen Drohungen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit ausgesetzt. Im Februar 2021 wurde sie in ihrem Haus in Addis Abeba von drei Männern angegriffen, die sie beschuldigten, „Lügen“ zu verbreiten und „die Junta von Tigray“ zu unterstützen.
Auch ausländische Medienschaffende sind nicht verschont geblieben. Tom Gardner, Korrespondent für den Economist in Addis Abeba, wurde am 16. Mai ausgewiesen, nachdem ihm die Behörden drei Tage zuvor die Akkreditierung entzogen hatten. Simon Marks, ein in Addis Abeba ansässiger Reporter der New York Times, wurde im Mai 2021 ohne Vorwarnung oder offizielle Erklärung der Regierung zur Ausreise gezwungen.
Trotz der Versprechen von Premierminister Abiy Ahmed, mit der Schaffung „dynamischer“ Medien zu Frieden und Koexistenz beizutragen, wird der Raum für die Medien in Äthiopien immer kleiner. Als das Unterhaus des äthiopischen Parlaments im April neun neue Mitglieder für die äthiopische Medienaufsichtsbehörde EMA ernannte, winkte es die vom Premierminister vorgelegten Namen durch. Damit verstießen die Politikerinnen und Politiker gegen das Mediengesetz, demzufolge die EMA autonom sein muss und keine Mitglieder oder Mitarbeitende politischer Parteien in ihrem Vorstand haben darf. Bereits im Jahr 2021 hatte die EMA der beliebten Nachrichten-Website Addis Standard die Akkreditierung entzogen. Als zehn Journalistinnen und Reporter wegen angeblicher Komplizenschaft mit der TPLF verhaftet wurden, schwieg die Behörde.
Am 3. Juni haben 17 journalistische Vereinigungen und Medien aus Äthiopien eine Erklärung unterzeichnet, um sich gemeinsam für die Sicherheit der Journalistinnen und Reporter einzusetzen.
Reporter ohne Grenzen (RSF) / 08.06.2022
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