Keine Verbesserungen bei Grundfreiheiten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Ohne deutliche Fortschritte bei den EU-Reformen kann das Parlament die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht erwägen, warnten die Abgeordneten am Dienstag.
In einem Bericht, der am Dienstag mit 448 Ja-Stimmen, 67 Nein-Stimmen und 107 Enthaltungen angenommen wurde, warnen die Abgeordneten davor, dass die Türkei trotz ihrer wiederholten Erklärungen EU-Mitglied werden zu wollen, in den vergangenen zwei Jahren immer wieder von ihren Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Beitrittsprozess zurückgetreten ist.
Das Parlament begrüßt die jüngste leichte Verbesserung der allgemeinen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei, insbesondere die Dialoge auf hoher Ebene. Die Abgeordneten betonen, dass diese verbesserte Zusammenarbeit leider neben regelmäßigen Konflikten existiert, da die Beziehungen zu den benachbarten EU-Mitgliedstaaten weiterhin schwierig sind.
Der Bericht verweist auf die anhaltende Verschlechterung der Menschenrechtssituation in der Türkei. Die Abgeordneten bedauern den anhaltenden rechtlichen und administrativen Druck auf die Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger*innen, Anwält*innen und Journalist*innen. Sie fordern die Kommission auf, ausreichende Mittel für pro-demokratische Bemühungen in der Türkei bereitzustellen.
Bedeutung einer engen Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei in der Außen- und Sicherheitspolitik
Die Abgeordneten begrüßen die Bereitschaft der Türkei, im Krieg Russlands gegen die Ukraine als Vermittler aufzutreten, und betonen, wie wichtig eine gute außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei in den gegenwärtigen schwierigen Zeiten ist, und danken dem Land für seine feste Ausrichtung auf die NATO und die EU.
Der Bericht lobt die Bemühungen der Türkei, die weltweit größte Anzahl Flüchtender aufzunehmen, und verweist auf die kontinuierliche Bereitstellung von EU-Mitteln für diesen Zweck, die die Abgeordneten auch in Zukunft beibehalten wollen. Sie unterstützen auch den Vorschlag der Kommission, Verhandlungen zur Aktualisierung einer für beide Seiten vorteilhaften Zollunion aufzunehmen, weisen aber darauf hin, dass das Parlament ein endgültiges Abkommen nur dann unterstützen würde, wenn die notwendigen demokratischen Bedingungen in Bezug auf Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung des Völkerrechts und gute nachbarschaftliche Beziehungen erfüllt sind.
Zusammenfassend kann das Parlament zum jetzigen Zeitpunkt nicht rechtfertigen, dass es seine Position bezüglich der formellen Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die seit 2018 praktisch zum Stillstand gekommen sind, ändert, so die Abgeordneten. Durch die offene Missachtung der verbindlichen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall von Osman Kavala und anderen habe die derzeitige türkische Regierung bewusst alle Bestrebungen zur Wiederaufnahme des EU-Beitrittsprozesses zum jetzigen Zeitpunkt zunichtegemacht, fügen sie hinzu.
Türkische Einwände gegen die NATO-Beitrittsanträge Schwedens und Finnlands
Die Abgeordneten fordern die türkische Regierung auf, die NATO-Beitrittsanträge Finnlands und Schwedens in gutem Glauben zu behandeln, sich konstruktiv an der Lösung möglicher offener Fragen zu beteiligen und keinen unangemessenen Druck in diesem Prozess auszuüben. Unter den gegenwärtigen ernsten Umständen ist es wichtig, dass alle NATO-Verbündeten vorausschauend handeln und die Beitrittsprotokolle der beiden Länder rasch ratifizieren, betonen die Abgeordneten.
„In den gegenwärtigen schwierigen Zeiten können Werte und Prinzipien, die den Kern eines jeden EU-Beitrittsprozesses bilden, nicht hinter geopolitischen Eventualitäten zurückstehen. Deshalb wird das Parlament – und ich hoffe, alle EU-Institutionen – angesichts der aktuellen autoritären Spirale im Land nicht schweigen. Anstatt das Vertrauen wiederzugewinnen, das in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei dringend benötigt wird, verlieren wir es jetzt; das unverantwortliche Veto in der NATO und die zunehmenden Spannungen mit den EU-Mitgliedstaaten sind besorgniserregende Zeichen für die Zukunft, die durch die Situation vor den Wahlen im Land gekennzeichnet ist. Wenn sich nichts ändert, kann ich mir kaum vorstellen, dass der Beitrittsprozess weitere fünf Jahre überleben wird“, sagte der Berichterstatter Nacho Sánchez Amor (S&D, Spanien).
Europäisches Parlament / 08.06.2022