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Über 3500 Menschen aus Şengal geflohen

Şengal

Dass die irakische Offensive auf das ezidische Şengal zeitgleich zur türkischen Invasion in Zap und Avaşîn geschieht, weist auf ein koordiniertes Vorgehen mit der Erdoğan-Führung hin. Mehr als 3500 Menschen sind seit Beginn der Angriffe bereits geflohen.

74 Genozide haben die Ezidinnen und Eziden in ihrer Geschichte bereits erlitten, schon seit Anbeginn der Zeit waren sie verfolgt. Den letzten Ferman, wie sie die Pogrome gegen ihr Volk bezeichnen, erlebten sie 2014 beim Überfall des sogenannten Islamischen Staats in ihrem Kerngebiet Şengal im Nordirak. Tausende wurden ermordet, Hunderttausende vertrieben, unzählige werden bis heute vermisst. Nun sind die Ezid:innen Şengals erneut auf der Flucht. Nicht vor dem IS, sondern vor den Angriffen der irakischen Armee gegen ihre Selbstverteidigungsstrukturen. Jene Einheiten, die von Überlebenden des IS-Genozids ins Leben gerufen worden waren, um ein 75. Ferman zu verhindern.

Seit Wochen vom Irak provozierte Spannungen

Schon seit Wochen hat der Irak wiederholt seine Truppen in die Şengal-Region geschickt. Am 18. April, wenige Stunden nach Beginn des türkischen Angriffskrieges in einem anderen Teil Südkurdistans, kam es zu einem ersten Gefecht, nachdem irakische Einheiten einen Kontrollpunkt des Asayîşa Êzîdxanê (Innere Sicherheitskräfte) in der Gemeinde Digurê attackierten. Dem unprovozierten Angriff vorausgegangen war die versuchte Einnahme eines dortigen Checkpoints. Weil Vermittlungsversuche von den irakischen Truppen ausgeschlagen wurden, blieb der Asayîş keine Wahl, als den Angriff abzuwehren. Zwei Zivilpersonen wurden infolge des Feuergefechts verletzt. Am Folgetag weitete das irakische Militär seine Attacken auf Stellungen der Widerstands- und Fraueneinheiten YBŞ/YJŞ in Til Ezêr, Geliyê Silo und Sikêniye aus. Bei einem dieser Angriffe wurde die YJŞ-Kämpferin Faraşîn Şengalî getötet. Unmittelbar danach wurden die beiden westlichen Journalist:innen Marlene Förster und Matej Kavčič von der irakischen Armee unter Terrorverdacht festgenommen und aus Şengal nach Bagdad verschleppt. In den darauffolgenden Tagen zog Bagdad massive Truppenkontingente in der Region zusammen.

Großangriff auf Şengal

Vergangenen Sonntagabend startete der Irak schließlich einen umfassenden Angriff auf Şengal. Zunächst wurden in Digurê, Sinunê und Xanesor Verteidigungspositionen der YBŞ, YJŞ und Asayîşa Êzîdxanê von irakischen Spezialoperationseinheiten eingekesselt. Den ezidischen Kräften wurde das Ultimatum gestellt, ihre Stellungen freiwillig zu räumen. Andernfalls werde man ihnen „auf das Schärfste entgegentreten“. Gestern eskalierte die Lage dann. Die irakische Armee setzte Panzereinheiten, schwere Waffen und Kampfhubschrauber gegen die Ezid:innen ein, in Digurê wurden eine Schule und ein YBŞ-Stützpunkt in Schutt und Asche gelegt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit fanden teils schwere Auseinandersetzungen statt, auf beiden Seiten gibt es Tote und Verletzte – offizielle Angaben über ihre Zahl liegen noch nicht vor. Der nördliche Teil der Kleinstadt Sinunê, die wenige Kilometer vor der irakisch-syrischen Grenze liegt, sowie einige Orte im Süden Şengals sollen von irakischen Truppen eingenommen worden sein. Die YBŞ und YJŞ konzentrierten sich zuletzt auf die Verteidigung ihrer Positionen im Westen der Region.

Mehr als 600 Familien nach Dihok geflüchtet

Am späten Montagabend hatten bereits mehr als 600 Familien, über 3.500 Menschen, nach Angaben des stellvertretenden Gouverneurs von Dihok ihre Häuser in Şengal verlassen und die Kurdistan-Region erreicht. Viele von ihnen waren erst in der jüngeren Vergangenheit in ihre Heimat zurückgekehrt, nach Jahren in Flüchtlingslagern unter verheerenden und menschenunwürdigen Umständen. Laut den Behörden sollen sie nun wieder in den Camps im Süden Dihoks untergebracht werden. Einige Dörfer in den umkämpften Gebieten in Şengal befinden sich allerdings zwischen den Fronten. In Digurê etwa waren alle Straßen gesperrt, die Bevölkerung faktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Forderungen nach einer Evakuierung der Bewohnerinnen und Bewohner stießen bei den irakischen Militärs auf taube Ohren. Auch der Zutritt von außerhalb wurde verweigert.

Türkisches Ultimatum an Bagdad?

Dass die irakische Offensive auf Şengal zeitgleich zur türkischen Invasion in Zap und Avaşîn geschieht, weist auf ein koordiniertes Vorgehen mit der Führung in Ankara hin. Der Autonomierat Şengals äußerte die Vermutung, dass die Türkei dem Irak ein Ultimatum gestellt haben könnte, die ezidischen Strukturen endlich zu zerschlagen, bevor man die Dinge selbst in die Hand nimmt. Sowohl die Zentralregierung in Bagdad als auch die kurdische Regionalregierung in Hewlêr (Erbil) arbeiten mit dem türkischen Staat darauf hin, ihren über die Köpfe der Bevölkerung Şengals hinweg geschlossenen Pakt vom Oktober 2020 in die Praxis umzusetzen. Dieser als „Sindschar-Abkommen“ verbrämte Deal sieht vor, die Gemeinschaft in Şengal durch die Auflösung ihrer Autonomieverwaltung und die Entwaffnung ihrer Selbstverteidigungseinheiten auf den Stand von vor 2014 zurückzuwerfen. Der Vertrag besteht aus einer Reihe von „sicherheitspolitischen und verwaltungstechnischen Maßnahmen“ und legt Verantwortlichkeitsbereiche der Behörden fest, wodurch „Stabilität und Sicherheit“ in Şengal einkehren soll.

Deckmantel für neuerlichen Genozid

Der Autonomierat Şengals dagegen betrachtet das Abkommen als legalen Deckmantel für einen erneuten Genozid an den Ezid:innen. Denn schon den Massakern durch den IS vor bald acht Jahren ging die Entwaffnung durch die kurdische Peschmerga vor. Die Truppen der Regierung in Hewlêr zogen sich in Windeseile zurück, als die Dschihadistenmiliz 2014 in Şengal anrückte, und überließen die schutzlose Bevölkerung dem sicheren Tod. Zur Hilfe der Ezid:innen eilten allein die PKK-Guerilla und die YPG/YPJ aus Syrien. Gemeinsam kämpften sie einen Fluchtkorridor frei, den die Barzanî-Führung verweigert hatte, und retteten tausenden Menschen das Leben. Bald darauf begann auch schon der Aufbau der YBŞ/YJŞ und die lokale Organisierung in Rätestrukturen. Dies aber war der Türkei ein Dorn im Auge. Um zu verhindern, dass der kurdische „Terrorkorridor“ sich weiter ausdehnt, führte Ankara bis heute eine ganze Reihe von völkerrechtswidrigen Angriffen auf Şengal durch. Dutzende Überlebende des IS-Genozids wurden bei diesen gezielten Drohnenschlägen getötet. Der türkische Staat begründet dieses Vorgehen stets mit „Selbstverteidigung gegen Terroristen“.

Şengal fordert Autonomie innerhalb des irakischen Föderalstaats

Für die Befürchtungen des Autonomierats über verheerende Folgen für die Gemeinschaften Şengals bei der Umsetzung des Sindschar-Abkommens spricht neben der aktuellen Umzingelung von Rojava und Şengal durch die PDK und den vom Irak betriebenen Mauerbau an der Grenze ins nordostsyrische Autonomiegebiet auch, dass die ezidische Seite weder gefragt noch an den Verhandlungen für das Abkommen beteiligt worden ist. Dabei kann die einzig rationale und sinnvolle Reaktion auf den Völkermord von 2014 nur der Aufbau und die Entwicklung ezidischer Verwaltungs- und Exekutivorgane mit kampffähigen Verteidigungsstrukturen sein. Die Republik Irak ist ein föderal organisierter Staat. Als solcher bietet seine Verfassung die Möglichkeit, regionale Autonomie für die ezidische Bevölkerung zu schaffen. Das ist es, was der Autonomierat von Şengal seit Jahren einfordert. Statt eine zentralisierte Kontrolle über die ezidische Bevölkerung auszuüben, sollte Bagdad ihre bestehende Autonomie in die Republik Irak aufnehmen und formalisieren. Politische und administrative Mitspracherechte bei der Verhandlung und Gestaltung der eigenen Zukunft und Existenz darf den Ezidinnen und Eziden nicht länger verweigert werden. Eine Autonomie für Şengal innerhalb des föderalen irakischen Staates ist politisch und gesellschaftlich zwingend erforderlich und würde sich in die Realität dieses Vielvölkerstaates gut einfügen.

ANF

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