Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat den Bund zu einer raschen und umfassenden Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) aufgefordert. „Die Befristungspraxis an Hochschulen und Forschungseinrichtungen ist ungebrochen: Die ganz große Mehrheit der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird mit Zeitverträgen abgespeist. Dabei dominieren Kurzzeitverträge, die im Durchschnitt eineinhalb Jahre laufen. Dieser Befund ist nicht nur dramatisch für die betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auch die Kontinuität und damit die Qualität der Forschung und Lehre werden unterminiert. Die Bundesregierung muss jetzt schnell handeln und eine Initiative für die Reform des Gesetzes starten. Schluss mit Hire and Fire in der Wissenschaft“, sagte der stellvertretende GEW-Vorsitzende und Hochschulexperte, Andreas Keller, mit Blick auf die Evaluation der 2016 in Kraft getretenen Novellierung des WissZeitVG. Deren Ergebnisse hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) heute vorgestellt.
Die Evaluation des Gesetzes zeige, so Keller, dass der Anteil der befristet beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit 84 Prozent an den Universitäten und 78 Prozent an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) so hoch wie vor Inkrafttreten der Novelle sei. Die Laufzeiten der Zeitverträge seien nach einem vorübergehenden Anstieg wieder auf das Niveau vor 2017 zurückgefallen. An den Universitäten liege die durchschnittliche Vertragslaufzeit bei 18 Monaten, an den HAW bei 15. 42 Prozent der Zeitverträge an Universitäten liefen nicht einmal ein Jahr, an den HAW betrage dieser Anteil sogar 45 Prozent. „Die wesentlichen Ziele der WissZeitVG-Novelle wurden verfehlt. Die Novelle dämmt weder unsachgemäße Befristung noch Kurzzeitbefristungen ein. Jetzt gibt es keine Ausrede mehr für die Ampelkoalition, die überfällige Reform des Gesetzes anzupacken“, bilanzierte Keller.
Das Gesetz widerspreche auch der ihm ursprünglich zugeschriebenen Funktion, die wissenschaftliche Qualifizierung zu fördern. „Die durchschnittliche Promotionsdauer beträgt nach Angaben des vom BMBF veröffentlichten Bundesberichts Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021 knapp sechs Jahre (ohne Medizin). Innerhalb einer durchschnittlichen Vertragslaufzeit von anderthalb Jahren kann das Qualifizierungsziel Promotion somit nicht erreicht werden. Die Folge sind Kettenbefristungen – wer acht Jahre und länger wissenschaftlich an einer Universität beschäftigt ist, blickt im Mittel auf sieben bis acht Verträge zurück. Oder aber die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden mit einer halbfertigen Qualifizierungsarbeit auf die Straße gesetzt. Befristung ist für die Arbeitgeber zum Selbstzweck geworden. Mit dieser missbräuchlichen Praxis muss endlich Schluss sein“, mahnte Keller.
Der GEW-Vize forderte den Bundesgesetzgeber auf, das Wissenschaftszeitvertrags- zu einem „Wissenschaftsentfristungsgesetz“ weiterzuentwickeln. „Es muss klipp und klar geregelt werden, dass Befristungen nur zulässig sind, wenn sie eine wissenschaftliche Qualifizierung wie die Promotion fördern. Verbindliche Mindestvertragslaufzeiten müssen sicherstellen, dass die Qualifizierung tatsächlich erfolgreich abgeschlossen werden kann. Nach der Promotion ist eine Befristung allenfalls in Verbindung mit einem ‚Tenure Track‘ gerechtfertigt, also wenn das Beschäftigungsverhältnis mit Erreichen des Qualifizierungsziels entfristet wird. Für Beschäftigte, die Kinder betreuen, pandemiebedingte Beeinträchtigungen erfahren haben oder eine Behinderung oder chronische Erkrankung haben, muss es im Sinne eines Nachteilsausgleichs einen Anspruch auf Vertragsverlängerung geben“, betonte Keller.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) / 20.05.2022
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