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„Einen Kollaps des Welternährungssystems werden wir nur verhindern, wenn wir gemeinsam handeln.“

Rede des Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir anlässlich der Eröffnung der G7-Agrarministerkonferenz

Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,
zum ersten Mal seit 2017 treffen sich heute die G7-Agrarministerinnen und Agrarminister. Und das aus gutem Grund. Ich habe Sie hier in meine Heimat eingeladen, weil die Ernährungssysteme und besonders die Landwirtinnen und Landwirte weltweit vor enormen Herausforderungen stehen. Wir müssen deshalb dringend noch enger zusammenarbeiten. Ein Blick auf die aktuelle Situation am Horn von Afrika macht dies überdeutlich: Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) handelt es sich bei der aktuellen Dürre in Teilen von Äthiopien, Somalia und Kenia um die trockensten Bedingungen seit über 40 Jahren. Innerhalb weniger Monate sind dort Millionen Nutztiere verendet. Auch die Getreideproduktion ist drastisch eingebrochen – teils um bis zu 70 Prozent. Die Folge:

  • Über 28 Millionen Menschen sind akut von einer Hungersnot bedroht
  • und seit Jahresanfang sind allein aus Somalia 450.000 Menschen geflüchtet.

Das macht erneut auf dramatische Weise klar: Wir sind mitten in der Klimakrise angelangt. Einer Krise, zu der unsere Landwirtschaft beiträgt, von der unsere Landwirtinnen und Landwirte aber zugleich selbst stark betroffen sind. Die Klimakrise, aber auch der Verlust der Biodiversität und die COVID-19 Pandemie, stellten bereits vor dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eine große Bedrohung für die globale Ernährungssicherung dar. Doch der Krieg verschärft die weltweite Ernährungssituation nun erheblich und zeigt einmal mehr den Einfluss, den Konflikte auf die globale Nahrungsmittel- und Ernährungssicherheit haben.

Doch an erster Stelle verursacht der russische Angriffskrieg unermessliches Leid für die Menschen in der Ukraine. Deshalb bin ich froh, dass wir Sie, lieber Kollege Solskyij, heute in unserer Mitte begrüßen dürfen. Ich möchte Ihnen, Ihrem Land und den Menschen in der Ukraine meine Solidarität und meine Anteilnahme ausdrücken. Wir stehen an Ihrer Seite! Wir werden heute erneut darüber beraten, wie wir Ihr Land und Ihren Agrarsektor unterstützen können. Mit Ihrem Amtsvorgänger haben wir beim virtuellen G7-Treffen am 11. März bereits einen ersten intensiven Austausch geführt. Es ist von unschätzbarem Wert für mich, heute von Ihnen – also aus erster Hand – Informationen über die Situation der Landwirtschaft in Ihrem Land zu erhalten.

Deutschland steht an der Seite der Ukraine und wird seine Hilfsmaßnahmen weiter fortsetzen und intensivieren. Wir haben bislang Hilfslieferungen für die Nahrungsmittelversorgung der ukrainischen Streitkräfte und die Bereitstellung von Saatgut für die Frühjahrsaussaat vermitteln können. Wir haben eine Koordinierungsstelle initiiert, die Lebensmittelspenden der deutschen Wirtschaft zielgerichtet an die ukrainischen Partner weiterleitet. Ein kleiner Beitrag angesichts des unermesslich großen Leids, dass Präsident Putin über Ihre Bürgerinnen und Bürger gebracht hat. Und angesichts des überwältigenden Mutes, mit dem Sie, die Ukrainerinnen und Ukrainer, sich gegen den Aggressor verteidigen. Weitere Unterstützungsmaßnahmen im technischen Bereich sowie Hilfslieferungen sind in der Prüfung.

Und auch die Europäische Union ist aktiv. Deutschland unterstützt den Vorstoß der Europäischen Kommission, alle Zölle für die Einfuhren aus der Ukraine in die EU auszusetzen. Wichtig ist aber auch die logistische Unterstützung bei der Wiederaufnahme der Exportaktivitäten. Denn Millionen Tonnen Getreide können die Ukraine nicht verlassen – weil Russland die Häfen, das Schwarze Meer blockiert. Die Europäische Kommission hat deshalb gestern einen Aktionsplan veröffentlicht. Darin sind verschiedene Maßnahmen vorgesehen, um in den nächsten drei Monaten 20 Millionen Tonnen Getreide auf dem Landweg aus der Ukraine zu exportieren. Wir brauchen das Getreide auf dem Weltmarkt und die Ukraine braucht die Silos für die kommende Ernte. Und ich freue mich darüber, dass unsere Außenministerin Annalena Baerbock mit ihren G7-Kollegen die Exportbemühungen unterstützen wollen.

Noch nie waren wir uns im Kreise der G7-Staaten über alle Ressorts hinaus so einig: Der Krieg gegen die Ukraine hat auch gravierende Folgen für die globale Ernährungssicherung:

  • Die europäische Kornkammer ist in höchster Gefahr.
  • Die Weizenexporte aus der Ukraine sind erheblich erschwert oder werden verhindert.
  • Die Preise vor allem für Weizen, Mais und Ölsaaten steigen.
  • Ebenso die Kosten für Tierfutter, Energie und Düngemittel.

Diese Folgen treffen am stärksten Länder, die auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen sind. Es sind vielfach Länder des globalen Südens, die schon heute enorm unter den Folgen der Klimakrise leiden – wie aktuell am Horn von Afrika. Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat vor diesem Hintergrund vor einem „Hurricane of Hunger“ und einem Kollaps des Welternährungssystems gewarnt. Ich bin überzeugt: einen solchen Kollaps werden wir nur verhindern, wenn wir gemeinsam handeln. Wenn wir dafür Sorge tragen, dass Nahrungsmittel da ankommen, wo sie gebraucht werden. Wenn wir dafür Sorge tragen, dass nachhaltig produziert wird – der Ukraine, bei uns und vor allem da, wo die Nahrung gebraucht wird.

Mit unseren klaren Äußerungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine senden wir, die Agrarministerinnen und -minister der G7-Staaten ein Zeichen an die Weltgemeinschaft. Gemeinsam wollen wir global das Recht auf ausreichende und ausgewogene Nahrung umsetzen – denn es ist ein fundamentales Menschenrecht. Wir müssen kurzfristig reagieren, um die Herausforderungen zu bewältigen. Deshalb habe ich im März ein virtuelles Sondertreffen der G7 Agrarministerinnen und Agrarminister einberufen. Wir haben uns dabei auf konkrete Maßnahmen verständigt, die wir heute ergänzen und vertiefen wollen. Deshalb ist es gut und wichtig, dass neben Ihnen, lieber Kollege Solskyj auch Sie, die Vertreter der FAO und der OECD, an unserem Treffen teilnehmen.

Anrede,
bei der Bewältigung der aktuellen Krise müssen wir auch die schon bestehenden Krisen weiter entschlossen angehen. Insbesondere die Klimakrise und der Verlust der Biodiversität erfordern unseren Einsatz. Wir stehen deshalb gemeinsam vor der Aufgabe, in einem umfassenden Transformationsprozess die Ernährungssysteme nachhaltiger zu gestalten. Die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung, wie sie in der Agenda 2030 vereinbart und im Rahmen des UN Food Systems Summit erneut unterstrichen wurden, sind hier unsere Fixpunkte. Wichtige Aspekte sind für Deutschland:

  • der verringerte und gezieltere Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln,
  • der Ausbau des Ökolandbaus,
  • aber auch die Reduktion von Lebensmittelverschwendung und von Nachernteverlusten.

In diesem Zusammenhang werde ich mich auch der so genannten „stillen Pandemie“ widmen. Gemeint ist damit die zunehmende Verbreitung von Antibiotikaresistenzen. Wir müssen hier gegensteuern. Der Codex Alimentarius setzt künftig einen Rahmen für den verantwortungsvollen Einsatz von Antibiotika. Er sieht sektorenübergreifende Monitoring- und Surveillance-Systeme für den Einsatz von Antibiotika und das Auftreten von Resistenzen – national und international – vor. In Deutschland planen wir bereits die ersten Schritte für die Umsetzung. Wichtig für Deutschland ist dabei immer die konsequente Anwendung des One-Health-Ansatzes. Ich freue mich daher sehr, dass jetzt ganz klar auch international ein abgestimmtes Handeln von WHO, FAO, OiE und von UNEP vereinbart ist.

Anrede,
Die langfristig angelegte Transformation unserer Ernährungssysteme können wir nur erfolgreich meistern, wenn wir die Interessen all derjenigen, die die Lebensmittel produzieren, berücksichtigen. Deshalb müssen wir diesen Transformationsprozess so gestalten, dass er zugleich umweltfreundlich und wirtschaftlich verträglich für die Landwirtinnen und Landwirte ist. Wir sind überzeugt, dass die Transformation der Ernährungssysteme weltweit nur unter Einbeziehung von Multi-Stakeholder-Foren gelingen kann. Deshalb setzt Deutschland sich ausdrücklich für eine Stärkung des Welternährungsausschusses – CFS – ein. Wichtig ist es, dabei auch die herausragenden Rollen von kleinbäuerlichen Strukturen sowie der Frauen in der Landwirtschaft zu berücksichtigen und jeder Form von Diskriminierung entgegen zu treten.

Anrede,
diese aktuellen Herausforderungen geben den Takt vor für unser Treffen. Deshalb werden wir uns heute ausschließlich den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine widmen. Ein funktionierender Welthandel ist die Basis für stabile Weltmarktpreise. Von großer Bedeutung ist dabei die Transparenz auf den Weltmärkten. Darin bestärken uns auch die Berichte darüber, dass die aktuelle Krise von Investoren zur Spekulation genutzt wird. Um solche Auswüchse zu unterbinden, brauchen wir Informationen, Transparenz. Das G20-Agrarmarktinformationssystem – AMIS – leistet hier hervorragende Arbeit. Deutschland unterstützt AMIS finanziell und ich freue mich, dass seitens der G7 Einigkeit herrscht, die Förderung von AMIS zu unterstützen.

Mir bereitet große Sorge, dass die Betriebsmittelpreise, insbesondere für Düngemittel, in der Landwirtschaft derzeit stark steigen. Daher haben wir gern die Anregung Kanadas aufgegriffen, die Arbeit von AMIS auf die Beobachtung der Betriebsmittelmärkte auszuweiten. Deutschland würde seine Beiträge für AMIS für diesen Zweck verdoppeln. Ich freue mich, dass wir uns hier einig sind. Und ich hoffe, dass unsere G20 Kolleginnen und Kollegen diese Anregung aufnehmen und unter indonesischer Präsidentschaft eine Ausweitung der AMIS Aktivitäten auf Betriebsmittelmärkte beschließen.

Anrede,
Morgen wird dann die dringend notwendige Transformation unserer Ernährungssysteme auf der Tagesordnung stehen. Wir haben dieses Thema vor allem auf zwei konkrete Handlungsfelder heruntergebrochen. Erstens auf die Förderung nachhaltiger Agrarlieferketten. Zweitens auf die Förderung von Kohlenstoffspeicherung im Agrarsektor.

Mit der Förderung nachhaltiger Agrarlieferketten nehmen wir die Unternehmen in die Pflicht. Sie sollen stärker ihren Sorgfaltspflichten entlang der Lieferketten nachkommen. Das gilt für den Schutz der Wälder, denn nachhaltige Lieferketten kommen ohne Entwaldung aus. Das gilt aber vor allem für mögliche Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel Kinderarbeit. Hier ist es wichtig, dass wir einen Austausch über die unterschiedlichen Regelungen in unseren Ländern erreichen. Deshalb werden wir eine Studie bei der OECD in Auftrag geben, die einen Überblick über die Regelungen in unseren G7-Ländern schafft. Damit wollen wir eine Grundlage für eine bessere Kohärenz der Regelungen in unseren Ländern schaffen und so zu nachhaltigeren Lieferketten beitragen.

Anrede,
Die Kohlenstoffspeicherung in der Landwirtschaft bietet viele Vorteile. Vorteile für den Klimaschutz, die Biodiversität und die Gesundheit der Böden. Auch für die Landwirtschaft, die sich über die Kompensation von Treibhausgasemissionen Einkommensquellen erschließen kann. Wir sehen hier aber auch ganz klar Risiken. Wichtig ist vor allem, dass die langfristige Speicherung von Kohlenstoff gelingt – nur dann handelt es sich um einen nachhaltigen Beitrag zur CO2-Reduktion. Deshalb sind gemeinsame Mindestkriterien und abgestimmte Verfahren der Zertifizierung wichtig. Wir werden daher die wissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema forcieren und diesen Prozess mit einem internationalen wissenschaftlichen Workshop beginnen.

Anrede,
ich möchte vor dem Hintergrund der Vielzahl von Krisen, die uns gemeinsam herausfordern, eines ausdrücklich betonen: Wir können nicht die eine Krise lösen, indem wir andere Krisen vernachlässigen oder gar verschärfen. Uns allen ist bewusst: Die Klimakrise macht keine Pause. Das zeigt ein Blick zum Horn von Afrika. Deshalb ist es wichtig, dass wir gerade im Angesicht dieser Krisen an den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung festhalten.

Denn die beiden großen Herausforderungen:

  • die aktuellen Auswirkungen des Krieges auf die globale Ernährungssicherung
  • und die langfristig angelegte und notwendige Transformation unseres Ernährungssystems – produktions- und konsumseitig

können nur zusammen bewältigt werden.

Lassen Sie uns deshalb die vor uns liegenden beiden Tage nutzen, um gemeinsam nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Lösungen, die die Welternährung sichern und für unsere Landwirte eine nachhaltige wirtschaftliche Basis schaffen. Vielen Dank, dass Sie alle nach Stuttgart gekommen sind!

BMEL / 14.05.2022

Foto: BMEL

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