Beim Präsidium der türkischen Nationalversammlung sind am Freitag neue Anträge zur Aufhebung der Immunität von Abgeordneten der demokratischen Opposition vorgelegt worden. Die Zahl der sogenannten Fezleke – staatsanwaltliche Berichte, die der Verfassungskommission sowie dem Parlamentsvorsitz übermittelt wurden, liegt bei 23. Betroffen sind insgesamt neunzehn Abgeordnete der HDP und ihrer Schwesterpartei DBP, für die gefordert wird, durch den Immunitätsentzug den Weg zur Strafverfolgung freizumachen. Die Anträge stehen hauptsächlich im Zusammenhang mit Terrorvorwürfen und gehen auf Beschwerden aus dem Präsidialbüro zurück. Die Erfahrung zeigt, dass die Vorwürfe in der Regel aus regimekritischen Äußerungen im Parlament, Aussagen in Interviews und Reden bei Veranstaltungen konstruiert werden.
Die Aufhebung der Immunität mit dem Ziel der anschließenden Inhaftierung von oppositionellen Abgeordneten stellt ein vom türkischen Staat in den letzten Jahren inflationär benutztes Mittel zur Ausschaltung jeglichem politischen Dissens dar. Fast im Wochentakt werden entsprechende Ermittlungsberichte von der Oberstaatsanwaltschaft Ankara beim Parlament eingereicht. Mitte Januar lagen insgesamt 1.478 Fezleke zur Entscheidung in der türkischen Nationalversammlung. Allein 1.120 betreffen Abgeordnete von HDP und DBP. Zwölf Politikerinnen und Politiker der HDP-Fraktion werden in fünfzehn verschiedenen Berichten sogar beschuldigt, Mitglied einer „bewaffneten und terroristischen“ Organisation zu sein.
Aktueller Fall: Semra Güzel
Der letzte Fall von Entzug der parlamentarischen Immunität durch die türkische Nationalversammlung ereignete sich Anfang März. Betroffen ist die HDP-Abgeordnete Semra Güzel. Die 38-Jährige, die ausgebildete Ärztin ist, wird unter anderem der PKK-Mitgliedschaft beschuldigt. Ausgangspunkt sind Fotos, die Güzel mit ihrem ehemaligen Verlobten, dem Guerillakämpfer Volkan Bora (Nom de Guerre: Koçero Meletî) zeigen. Die HDP bezeichnete den Vorgang als Propaganda-Manöver im Zuge des Verbotsverfahrens. Es handele sich um einen umfassenden Versuch, die Partei weiter zu kriminalisieren und ihre mögliche Auflösung durch das Verfassungsgericht vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu rechtfertigen, die normalerweise für Juni 2023 angesetzt sind. Sollte Güzel verurteilt werden, droht ihr eine langjährige Haftstrafe.
Immunitätsentzug zur „Terrorismusprävention”
Im Mai 2016 hatte das türkische Parlament einer von der islamistischen Erdoğan-Partei AKP initiierten Verfassungsänderung zur „Terrorismusprävention” zugestimmt und damit den Weg zur vorübergehenden Strafverfolgung von Abgeordneten freigemacht. Betroffen von dem Immunitätsentzug waren damals insgesamt 154 Parlamentsmitglieder, mehr als ein Drittel davon Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Unmittelbar nach der Verfassungsänderung wurden zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Opposition eingeleitet. Die losgetretene Repressionswelle fand mit der Verhaftung von zehn HDP-Abgeordneten, darunter den damaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, am 4. November 2016 ihren vorläufigen Höhepunkt.
Erfolgreiche Klagen vor EGMR
Bei einer Abgeordneten, der die Immunität 2016 entzogen worden war, handelt es sich um die feministische Rechtsanwältin und HDP-Politikerin Filiz Kerestecioğlu. Im Ermittlungsbericht gegen die heute 60-Jährige ging es um eine Frauenkundgebung in Istanbul, die unerlaubter Weise stattgefunden hätte, und eine Ansprache. Dadurch, dass Kerestecioğlu als Rednerin auftrat, habe sie verdeutlicht, den illegalen Protest angeführt zu haben. Die Politikerin war in der Folge wegen eines behaupteten Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz angeklagt, im Januar 2018 jedoch freigesprochen worden.
Im Mai 2021 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Aufhebung der Immunität von Kerestecioğlu einen Verstoß gegen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung darstellte. Die Maßnahme habe den konkreten Zweck gehabt, Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken (Beschwerdenr.: 68136/16). Ankara musste der Politikerin eine Entschädigung von 9.000 Euro zahlen.
Eine identische Entscheidung traf der EGMR erst Anfang Februar auch im Fall von vierzig weiteren HDP-Abgeordneten (Beschwerdenr.: 56543/16). Sie waren ebenfalls im Zuge des Immunitätsentzugs nach Straßburg gezogen und haben nun jeweils 5.000 Euro zugesprochen bekommen. Geklagt hatten eigentlich 42 Abgeordnete der HDP. Zwei von ihnen, Dengir Mir Mehmet Fırat und Kadri Yıldırım, sind aber bereits verstorben.