In der Türkei treibt die galoppierende Inflation die Energiekosten derart in die Höhe, dass Strom für immer mehr Menschen zum Luxusgut wird. Zwar steigen die Energiepreise auch in vielen anderen Teilen der Welt, doch durch den Verfall der Landeswährung Lira ist es in der Türkei besonders dramatisch. Nicht nur bei den Strompreisen, die zum Jahreswechsel für Haushalte um 50 Prozent erhöht worden waren, sondern auch bei Nahrungsmitteln und anderen Gütern des alltäglichen Bedarfs. Zum 1. Februar erfolgte eine weitere Erhöhung der Energiekosten.
Die Preissteigerungen von Strom gerade in diesem Winter haben in der Türkei unter dem Eindruck ohnehin explodierender Lebenshaltungskosten, einer tödlichen Pandemiepolitik und deren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen den Charakter sozialen Sprengstoffs. Landesweit breitet sich seit einigen Tagen eine Welle des Protests aus, die sich vielerorts an astronomisch hohen Rechnungen entzündet. Diese liegen inzwischen doppelt so hoch wie zum Vormonat und auf einem neuen Allzeithoch. Bedenkt man, dass offiziellen Angaben nach mehr als 18 Prozent aller Beschäftigten in der Türkei weniger als den Mindestlohn verdienen, der aktuell bei umgerechnet etwa 240 Euro liegt, können vermutlich nur die wenigsten die höheren Energiekosten ohne Unterstützung schultern.
Zehntausende in Mêrdîn
Dagegen regt sich Unmut in großen Teilen der Bevölkerung. In zahlreichen Städten gab es am Wochenende Proteste, auch im kurdischen Teil des Landes. Allein in Qoser (tr. Kızıltepe) in der Provinz Mêrdîn wurde die Zahl der Demonstrierenden am Sonntag auf mehrere zehntausend geschätzt. Große Teile der Innenstadt wurden blockiert, alle Straßen waren voll mit wütenden Menschen. Immer wieder fielen lautstarke Parolen wie „Tayyip, tritt zurück“ und „Nieder mit DEDAŞ”, dem AKP-nahen Elektrizitätskonzern in der Region. Die Polizei rückte mit einer Kolonne aus Panzerfahrzeugen an und forderte die Menge mehrfach deutlich vernehmbar auf, die Demonstration aufzulösen. Aus einigen Reihen flogen daraufhin Steine. Die Sicherheitskräfte setzten Wasserwerfer und Tränengas ein, teils auch gezielt gegen Personen auf Balkonen der Wohnhäuser am Rande. Darüber hinaus kam es zu mehreren Festnahmen.
Kerzen statt Glühbirnen
In Gever (Yüksekova) zogen am Samstag tausende Menschen auf die Straße und forderten Staatschef Recep Tayyip Erdoğan angesichts der strukturellen Krisen im Land zum Rücktritt auf. Die Demonstrierenden versammelten sich vor dem Sitz des Stromanbieters VEDAŞ und brachten ihren Frust über abstruse Rechnungen zum Ausdruck. Die Polizei zog einen Sicherheitskreis um das Gebäude zum „Schutz“ vor den Demonstrierenden. Am Sonntag setzten die Gewerbetreibenden der Stadt den Protest in ihren Geschäften fort: Statt Glühbirnen brannten Kerzen in den Läden.
„Das ist Raub“
In Şemrex (Mazıdağ) wurden in einem symbolischen Akt hunderte Stromrechnungen verbrannt. Auf die öffentlichkeitswirksame Aktion folgte ein kämpferischer Marsch durch die Stadt. „Das ist Raub“, riefen die Menschen mit Blick auf die Erhöhung der Energiekosten und forderten die Regierung zum Rücktritt auf. Proteste gab es auch in Teilen von Amed (Diyarbakır), Dîlok (Antep) und anderen kurdischen Städten. Ebenso wurde im Westen des Landes demonstriert. Viele Beobachtende sehen in den Protesten eine neue soziale Bewegung.