Reporter ohne Grenzen (RSF) ruft den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf, Presse- und Meinungsfreiheit zu schützen und unabhängige Berichterstattung auch in der derzeit angespannten politischen Situation nicht einzuschränken. Unter Umgehung des Parlaments und der Gerichte hatte Selenskyj in der Vergangenheit mehrfach Medien verboten, deren Berichterstattung als prorussisch galt, die in Russland produziert wurden oder die der Kreml für Desinformationskampagnen einsetzte. Medienschaffende, die über den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine berichten, arbeiten oft unter großen Gefahren. Von der annektierten Halbinsel Krim und aus den besetzten Gebieten im Osten des Landes ist seit Jahren kaum noch unabhängige Berichterstattung möglich.
„Die Ukraine ist ohne Zweifel Ziel massiver Desinformationskampagnen aus Russland, in denen tendenziöse Berichte, bewusste Verzerrungen, ja sogar offene Falschmeldungen eingesetzt werden“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Dennoch müssen alle Maßnahmen, um sich gegen diese Desinformation zu verteidigen, demokratisch legitimiert und verhältnismäßig sein. Sie dürfen nicht als Vorwand dienen, um gegen die Opposition vorzugehen oder unabhängige Berichterstattung und Meinungspluralismus einzuschränken.
Verbot prorussischer Medien ohne Zustimmung des Parlaments
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war 2021 wiederholt in die Kritik geraten, als er oppositionelle und prorussische Medien verbieten ließ und sich dabei ausschließlich auf eigene Dekrete und Empfehlungen des von ihm eingesetzten Nationalen Sicherheitsrats stützte.
Gleichzeitig gibt es Bestrebungen, den neuen russischsprachigen Staatssender Dom landesweit auszustrahlen. Dom TV wurde 2020 gegründet und war ursprünglich als Sender für die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine und auf der von Russland annektierten Krim gedacht, um dort russischer Desinformation entgegenzuwirken.
Im August 2021 ließ Selenskyj mit Verweis auf „prorussische Propaganda“ unter anderem die russischen Zeitungen Wedomosti und Moskowski Komsomolez sowie die oppositionelle ukrainische Nachrichtenseite strana.ua sperren. Gegen den Chefredakteur von strana.ua, Ihor Huschwa, der in Österreich politisches Asyl erhalten hat, wurden Sanktionen verhängt.
Für Aufsehen hatte der Präsident bereits im Februar 2021 gesorgt, als er drei ukrainischen TV-Sendern (Kanal 112, NewsOne und ZIK) für fünf Jahre die Sendelizenzen entzog. Innerhalb weniger Stunden wurden die Programme abgeschaltet. Auch diese Entscheidung traf der Präsident per Dekret auf Empfehlung des Sicherheitsrats und ohne stichhaltige Belege für den Vorwurf vorzulegen, die Sender würden „Propaganda“ im Sinne Moskaus verbreiten. Die drei Sender werden dem Politiker und Putin-Vertrauten Wiktor Medwedtschuk zugerechnet und sind Sprachrohr der prorussischen Partei „Oppositionsplattform“, die der Regierungspartei vor allem im Osten der Ukraine Konkurrenz macht. Die Entscheidung Selenskyjs wurde nicht nur international kritisiert, sondern auch innerhalb der Ukraine. Medien dürften nicht ohne Gerichtsentscheidung gesperrt werden, erklärte etwa der Chef des ukrainischen Journalistenverbandes, Serhij Tomilenko.
Fragen nach Transparenz und demokratischer Kontrolle
Bereits kurz nach Beginn des russisch-ukrainischen Krieges 2014 hatte der damalige Präsident Petro Poroschenko die Ausstrahlung russischen Fernsehens in der Ukraine verboten. Mehr als 70 Sender wurden gesperrt und konnten nur noch über Satelliten empfangen werden. Im Januar 2017 wurde der kremlkritische Sender Doschd verboten, im Mai 2017 sperrte Poroschenko für drei Jahre die russischen sozialen Netzwerke Vkontakte und Odnoklassniki, die Suchmaschine Yandex.ru und den Email-Provider Mail.ru. Sein Nachfolger Selenskyj verlängerte dies.
Im März 2021 kündigte Präsident Selenskyj an, die Ukraine wolle ein Zentrum für die Bekämpfung von Desinformation aufbauen, das Strategien gegen das russische Vorgehen entwickeln und mit internationalen Organisationen zusammenarbeiten solle. Auch hier stellen sich Fragen nach ausreichender Transparenz und demokratischer Kontrolle, denn das Zentrum ist beim Sicherheitsrat angesiedelt, der dem Präsidenten untersteht. Das Parlament hätte also kein Mitspracherecht beispielsweise darüber, wer das Zentrum leitet. Bereits 2019 und 2020 hatten zwei – letztlich erfolglose – Gesetzentwürfe für heftige Kritik gesorgt, die Regierungsbehörden weitreichende alleinige Kompetenzen im Kampf gegen Falschmeldungen und das Infragestellen der territorialen Integrität der Ukraine zugestanden hätten. RSF hatte damals konkrete Vorschläge zur Überarbeitung der Entwürfe vorgelegt.
Medienschaffende zwischen den Fronten des politischen Konflikts
Immer wieder kommt es in dieser aufgeheizten Situation zu Gewalt und Drohungen gegen einzelne Journalistinnen und Journalisten. Nach dem Verbot der drei Fernsehsender im Februar 2021 rief die rechtsextreme Organisation „Prawyj Sektor“ zum Protest vor der Redaktion von Nasch TV in Kiew auf, einem weiteren als prorussisch geltenden Sender. Dabei griffen Demonstrierende den Reporter Oleh Netschaj an und entrissen ihm während einer Live-Schalte das Mikrofon. Der Journalist Oleksij Paltschunow wurde zusammengeschlagen. Im August 2021 beantragte der Nationale Rundfunkrat, Nasch TV die Lizenz zu entziehen.
Im Juli 2020 wurde die aus Russland stammende Chefredakteurin der Nachrichtenseite Zaborona, Kateryna Sergazkowa, derart bedroht, dass sie aus Angst um ihre Familie das Land verließ. Sergazkowa hatte über mögliche Verbindungen der Fact-checking-Initiative Stopfake zu ukrainischen Rechtsextremen berichtet. Daraufhin wurden Fotos ihres Sohnes sowie ihre Adresse in sozialen Netzwerken veröffentlicht und ihr Gewalt bis hin zur Ermordung angedroht. Etwa zur gleichen Zeit wurde die Journalistin Ljubow Welitschko massiv in sozialen Netzwerken bedroht, nachdem sie eine Recherche über mehrere Telegram-Kanäle veröffentlicht hatte, die von ukrainischen Politikerinnen und Politikern viel gelesen und möglicherweise aus Russland gesteuert werden.
Kaum unabhängige Nachrichten aus dem besetzten Osten und von der Krim
Aus den von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine und der von Russland annektierten Halbinsel Krim können Medienschaffende nur unter größten Gefahren berichten, von dort dringen kaum unabhängige Nachrichten nach außen. Der Journalist Stanislaw Asejew beschrieb RSF im Dezember 2021 in einem Video eindrücklich seine Erfahrungen. Asejew, einer der letzten unabhängigen Reporter, die nach dem Krieg 2014 noch aus dem Osten der Ukraine berichteten, war im Juni 2017 entführt worden. Die zweieinhalb Jahre seiner Gefangenschaft verbrachte er zu einem großen Teil in Isolation. Er wurde unter Folter gezwungen, falsche Geständnisse zu unterschreiben und sich im Fernsehen als ukrainischer Spion schuldig zu bekennen.
Auf der Krim nahm der russische Inlandsgeheimdienst FSB am 10. März 2021 Wladislaw Jessipenko fest, einen freien Korrespondenten des Regionalprogramms von Radio Free Europe/Radio Liberty, krym.realii. Jessipenko wurde nach eigenen Angaben gefoltert und gezwungen, im staatlichen russischen TV-Kanal Krim24 ein Geständnis abzugeben. Auch ihm wird vorgeworfen, für die Ukraine spioniert zu haben. Seit dem 28. März 2019 sitzt zudem der krimtatarische Journalist Remsi Bekirow im Gefängnis, der für die in Russland verbotene oppositionelle Nachrichtenseite graniru.org über die Verfolgung der Tataren auf der Krim berichtet hatte. Ihm droht lebenslange Haft wegen der angeblichen „Organisation einer terroristischen Vereinigung“.
Medien in der Ukraine: vielfältig, aber nicht unabhängig
Insgesamt ist die Medienlandschaft in der Ukraine vielfältig, verglichen mit Nachbarländern wie Russland oder Belarus können Journalistinnen und Journalisten dort frei berichten. Allerdings sind die meisten Medien in der Hand von Oligarchen, die TV-Sender und Nachrichtenseiten vor allem als Instrumente im Kampf um wirtschaftliche und politische Macht nutzen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist seit Jahren unterfinanziert, seine Einschaltquoten sind verschwindend gering. Hinzu kommt, dass in den Medien oft bezahlte Inhalte mit redaktioneller Berichterstattung vermischt werden. Die ukrainische NGO Institut für Massenmedien (IMI) berichtet regelmäßig über dieses Problem, das umgangssprachlich „Jeansa“ genannt wird – nach dem Geld, das sich Medienschaffenden für solche Aufträge in die Hosentasche stecken lassen.
Regierungskritisch und investigativ arbeitende Journalistinnen und Journalisten werden häufig durch staatliche Stellen oder diesen nahestehende Geschäftsleute unter Druck gesetzt oder an der Arbeit gehindert. So verlor Mitte Januar der Moderator Ostap Drosdow nach einer Sendung über Korruption in der Präsidialadministration seine Stelle beim Fernsehsender Kanal 4, der seit kurzem einem regierungsnahen Abgeordneten gehört. Anfang November 2021 wurden überraschend 50 Redaktionsmitglieder der englischsprachigen Kyiv Post entlassen und die Zeitung erschien vorrübergehend nicht. Einige von ihnen gründeten daraufhin The Kyiv Independent und geben seit Ende 2021 neben der Webseite einen Newsletter und einen Podcast heraus.
Im Oktober 2021 beklagte die Redaktion des öffentlichen Senders UA Perschyj, das Büro des Präsidenten habe versucht, die Auswahl der Gäste für bestimmte Sendungen zu beeinflussen. Auch gegen die Redaktion des TV-Senders Prjamyj, der Ex-Präsident Petro Poroschenko nahesteht, gehen die Behörden seit Monaten vor. Im September 2020 verlor der dazugehörige Radiosender Prjamyj FM seine Lizenz.
Brandanschläge, Überwachung, gewalttätige Übergriffe
Immer wieder wird Gewalt gegen missliebige Medienschaffende ausgeübt, in den seltensten Fällen wird dies aufgeklärt und bestraft. Anfang Dezember 2021 steckten Unbekannte in der westukrainischen Stadt Uschgorod zwei Autos von Pawlo Biletskyj in Brand. Der Chefredakteur der Nachrichtenagentur Zido hatte über illegale Bereicherung in der lokalen Verwaltung berichtet. Weitere Brandanschläge trafen Ende Januar 2020 im westukrainischen Lwiw das Auto der RFE/RL- Reporterin Halyna Tereschtschuk und im August 2020 nahe Kiew einen Wagen des Investigativ-Programms Schemy.
Schemy ist ein gemeinsames Projekt des öffentlich-rechtlichen Senders UA Perschyj und Radio Free Europe/Radio Liberty, das wöchentlich über Korruption berichtet. Das machte die Redaktion in der Vergangenheit häufig zum Ziel von Angriffen. So entrissen im Oktober 2021 Sicherheitsleute der staatlichen Ukreksim-Bank einem Schemy-Team während eines Interviews mit dem Direktor der Bank die Kamera und zwangen sie nach einer kritischen Frage, Aufnahmen zu löschen. Schemy-Reporter Mychajlo Tkatsch beklagte mehrfach, er werde systematisch überwacht, die Polizei gehe dem jedoch nicht nach.
Reporter ohne Grenzen (RSF) / 31.01.2022
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